Diogenes bringt nach den Winter– und Sommergeschichten nun auch den Frühling im Werk des Russischen Meisters Anton Čechov heraus. Frühlingsgefühle vereint wie die zwei früheren Bände ebenfalls Erzählungen aus verschiedenen Schaffensperioden des Autors, die mehr oder weniger dezidiert von der Jahreszeit als auch den sprichwörtlichen Frühlingsgefühlen erzählen. Es ist eine unterhaltsame, abwechslungsreiche, aber nicht durchgängig erstklassige Sammlung.
Die Irrungen und Wirrungen der Liebe im Russland des 19. Jahrhunderts: Anziehung ist hier nicht allein physischer, sondern auch gesellschaftlicher Natur. Unerfüllte Lieben, skandalöse Lieben, Affären, entzücken und zaudern wechseln sich heiter bis forsch in den 22 Texten ab, die in Länge und Qualität variieren. Von kurzen, eher pointierten Kurzgeschichten bis hin zu zur 50 Seiten umfassenden Erzählung “Der schwarze Mönch” bietet Frühlingsgefühle einen bunten Reigen. Der nur einseitige Text “Meine ‘Sie’” beginnt die Sammlung eher kolmnistisch, in der Čechov pointiert von seiner “Sie” erzählt, deren Macht ihn weder tags noch nachts allein lässt, die ihn ständig lockt und er dennoch hasst – der Faulheit.
Ebenfalls nicht ohne Komik, dafür literarisch-erzählender ist der “kleine Roman” “Zelenaja Kosa”: Hier berichtet der Erzähler von Aufenthalten an dem titelgebenden Ort, wo er mit einigen Anderen die Zeit in den Sommer hinein in der Villa einer gastfreundlichen aber launischen Dame, Frau eines Fürsten, verbringt: “Sie gab uns ausgezeichnet zu essen, vorzüglich zu trinken, lieh uns aus vollen Händen Geld und quälte uns gleichzeitig furchtbar” (10). Die Gäste entpuppen sich für die Dame gleichwohl selbst als Quälgeiste. Denn alles außer Tugend ist für die Dame Blödsinn. Und genau hier kommt ihre Tochter ins Spiel, die den Herren die Erinnerungen an den Ort versüßen. Olja ist 19 Jahre, “lebhaft und nicht dumm” (10), “Sie war die Seele der Kumpanie” (12). Die Hausherrin ist der Kompanie an und für sich auch zugetan – andernfalls würde sie diese auch nicht von Mai bis Sommer dulden. Nur einen, den sie aus Etiquette heraus einlädt, Leutnant Egorov, hasst sie. Und natürlich ist es er, in den sich Olja verliebt. Die ist wiederum, wie sollte es anders sein, einer besseren Partie versprochen. Ein Schlamassel, den Čechov spitzbübisch erzählt.
Etwas verschmitzt und ironisch sind diese Erzählungen, von denen vor allem die längeren Stücke begeistern. Bei den kürzeren Texten ist viel davon abhängt, ob die Pointe zündet. Das liegt auch daran, dass den Figuren in den längeren Texten mehr Raum gegeben wird und sie es sind, die sie tragen. Mal barsch, mal zaudernd, mal empört, mal vor den Kopf gestoßen, werfen sie sich von Ausrufezeichen geschlossene Sätze entgegen und immer wieder staunt man selbst über diese Russen des 19. Jahrhunderts. In “Verocka” wird beispielsweise von einem jungen Mann erzählt, der zwei Jahre als Statistiker im Haus eines älteren Herren lebt. Nun ist seine Zeit vorbei, er verabschiedet sich rührselig und doch entschlossen, als ihm die Tochter des Hausherren ihre Liebe gesteht – obwohl sie immer unnahbar auf ihn gewirkt hatte. Es beginnt ein inneres Tauziehen.
Während die meisten dieser Geschichten entsprechend des die Sammlung organisierenden Themas “Frühlingsgefühle” humorvoll unterhalten, ist der längste Text, “Der schwarze Mönch”, etwas rätselhafter und nicht zwingend der Liebe allein verschrieben. Erzählt wird von dem Magister Kovrin, der, nervlich etwas zerrüttet, eine Auszeit auf dem Land nimmt, in eine Liebelei verstrickt wird und eine Halluzination erfährt – ein schwarzer Mönch. Während der talentierte Mann eine produktive Schaffensphase erfährt, hegen seine Lieben Zweifel an dessen geistigen Zustand und intervenieren. “Der schwarze Mönch” ist ein Text, der den Geist des Leser mehr auf Wanderschaft schickt, als andere des Bandes, da er vielschichtiger ist, von Figuren und ihrer Umgebung sowie dem Gegensatz von Bindung und Freiheit erzählt.
Insgesamt ist Frühlingsgefühle wie die Sommergeschichten davor ein unterhaltsamer Blick zurück auf einen bedeutenden russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und das ewiglich verwirrende Spiel zwischen den Geschlechtern.
*
Frühlingsgefühle: Geschichten von der Liebe ist bei Diogenes erhältlich.
Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.