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Ein Vogel möcht ich sein: Psychopompos von Amélie Nothomb

Psychopompos von Amélie NothombAuf Amélie Nothomb ist Verlass: Wie ein Uhrwerk veröffentlicht sie beinahe im Jahresrhythmus kurze Romane mit selten mehr als 200 Seiten. Mehr braucht sie nicht, destilliert ihre oft ganze Lebensgeschichten umfassenden Erzählungen auf ihre Essenz. Mit Psychopompos legt sie nun einen kurzen, autobiografischen Roman vor – ihr vielleicht persönlichstes Werk. Schließlich ist sie die Protagonistin. In Psychopompos geht es um ihr Aufwachsen als Diplomatentochter, die in Vögeln so etwas wie ihre Seelenverwandten findet und über sie zum Schreiben kommt.

Psychopompos ist also ein autobiografischer Künstlerroman, in dem Nothomb uns erzählt, wie es war, als entwurzelte Diplomatentochter in verschiedenen asiatischen Ländern aufzuwachsen. Eine japanische Sage, die sie im Alter von vier erzählt bekommt, eröffnet den Text und ist das auslösende Moment für alles Folgende. Dabei geht es um einen Stoffhändler und seine Frau, die einen einzigartigen Stoff webt. Ihr Geheimnis: Sie ist ein Kranich, der Stoff ihr verwebtes Gefieder. Sie geht letztlich an der Nachfrage nach dem exquisiten Textil, die ihr Mann unbedingt bedienen will, zugrunde.

Ihre Faszination für Vögel ist geweckt. Und sie begleitet sie über ihre Stationen durch Asien. Der Wunsch, zu fliegen, das Fallen durch die Leere, faszinieren sie. Hier macht Nothomb ihren Vergleich zum Schreiben auf. Es ist wie der Vogelflug:

Misstrauen Sie jedem, der behauptet: „Ich will gar nichts Besonderes, nur schreiben.“ Entweder er lügt, oder es ist noch schlimmer. Der Wunsch zu schreiben ist das höchste Verlangen, wie der Wunsch zu fliegen. Kein Vogel denkt: „Ich will gar nichts Besonderes, nur fliegen.“ Er weiß, dass es etwas Gewaltiges ist, jeden Tag zu fliegen. Das ist auch der Vorzug am täglichen Schreiben: dass man nie vergisst, wie schwer es ist (S. 90).

Der Roman gleitet geschmeidig, wie man es von der Autorin kennt, durch ihre Lebensstationen bis hin zum großen Thema Schreiben, wo es zu einer weiteren Allegorie kommt: dem Autoren als Psychopomp – also als Seelengeleiter, wie es beispielsweise Hermes war, der Verstorbene ins Jenseits begleitete. Diese Funktion übernimmt Nothomb dann später für ihren Vater, indem sie den Roman Der belgische Konsul schreibt.

Psychopompos ist Nothombs persönlichstes Werk. Es ist fraglos auch interessant zu lesen, wie aus einem Kind eine gefeierte Autorin wächst, was sie inspirierte, worin sie die Funktion der Literatur sieht und was ihr Prozess dabei ist. Dennoch verliert der Text besonders im Mittelteil, wo Nothomb sich dem mythischen Psychopomp und dem Schreiben zuwendet, etwas an Fahrt. Das autobiografische Erzählen dröselt hier zugunsten etwas Essayistischem auf, das durchaus auch etwas Selbst-Mythologisierendes hat.

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Psychopompos ist bei Diogenes erschienen.

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