Allgemein,  Kritik,  Literatur

Vernarbte Leben: Verge von Lidia Yuknavitch

Lidia YuknavitchVerge bedeutet zu deutsch Rand oder Schwelle. Einen trefferenden Titel hätte sich Lidia Yuknavitch für ihre zwanzig Stories nicht ausdenken können. Der Erzählband führt den Leser an die Ränder der Gesellschaft. Es sind Prostituierte, Waisen, Drogenabhängige, Homosexuelle und Drag Queens, die ihre eigenen und die Vorstellungen anderer navigieren und dabei manche Verwundung erdulden müssen.

Die zwischen zwei und zwanzig Seiten langen Stories in Verge sind vereint darin, dass Lidia Yuknavitch in ihnen einen konsequenten Bogen um den Mainstream macht. Sie tauchen ab in Lebenswelten, die sonst höchstens in Schlagzeilen sichtbar werden. Die ersten zwei Texte der Sammlung gleichen einem Sprung ins Unbekannte – wortwörtlich. “The Pull” erzählt von zwei flüchtenden Mädchen, deren Schiff auf dem Mittelmeer kentert. Es bleibt ihnen nichts anderes, als sich in die Fluten zu stürzen, um ihr Leben und eine ungewisse Zukunft zu retten. “The Organ Runner” erzählt von einem Mädchen, das bei einem Ernteunfall die rechte Hand verliert. Für die schwere Arbeit auf dem Land nicht mehr zu gebrauchen, muss sie die Familie verlassen und findet sich alsbald in einer Organhandel-Bande wieder.

Eine der stärksten Erzählungen streift den Mainstream. In “Street Walker” hat es ein Junkie-Paar in die Vorstadt geschafft. Die Erzählerin lehrt inzwischen Englisch, ihr Mann arbeitet als Künstler. Doch die Nachbarschaft verkommt – Drogenbesteck liegt auf dem Rasen, eine Prostituierte läuft die Straße auf und ab. Die Erzählerin erinnert sie an die Vergangenheit, etwas lässt sie nicht los, also bittet sie die Sexarbeiterin ins Haus. Verge als Verb bedeutet “sich neigen”, der Rand ist hier Messers Schneide: Die Protagonistin kennt beide Welten – ist sie angekommen in der gepflegten Mittelschicht, hat sie das alte Leben wirklich verwunden? Wohin wird sie sich neigen?

I have one hour. Sometimes all the hours of our life rip open for an instant, then suture back up as if nothing ever entered. […] You can’t stare down a sex worker or a junkie. Either they look away, making you think you’re invisible, or they stare through your skull and out the other side, leaving a hole where you psyche used to be, and you’re left some hollowed-out moron afraid of crazy people, afraid of ghosts, afraid of your own relentless shadow (37).

Leser, die in ihrem Leben schon Bekanntschaft mit dem französischen Psychoanlytiker Jacques Lacan gemacht haben, werden über das Wort suture (“Naht”) stolpern, das Yuknavitch ungewöhnlich oft in ihren Erzählungen verwendet. Mit suture bezeichnet Lacan die Mis-Identifikationen, die ein Subjekt unbewusst anstellt, um die Leerstelle (Lacan sieht diese als Wunde) zwischen der realen Welt und der Kenntnis davon zu vernähen. Das kann man durchaus als Einladung verstehen, sich über ein psychoanalytical reading diesen Texten zu nähern. Nähte und Wunden sind in Verge allgegenwärtig. In “A Woman Signifying” fügt sich eine betrogene Ehefrau beispielsweise bewusst eine “amazing wound” in ihrem Gesicht zu, als “symbol of it all, her face the word for it” (92).

Verge führt den Leser also auf kein einfaches Terrain und dies in einer oft derben Sprache, die zuweilen auf Grammatik pfeift, ohne aber Humor zu entbehren. Verge ist keine einfache Lektüre, aber kurzweiliger, als man denkt.

*

Verge ist bei Riverhead Books erschienen. 

Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.