Elisabeth Gonzales James ist gesegnet mit den zwei Talenten, aus denen wahrlich bemerkenswerte Bücher wachsen: Eine wilde Imaginationskraft und erzählerisches Gespür. Basierend auf ihrer eigenen Familiengeschichte in der Mexikanisch-Texanischen Grenzregion, ist The Bullet Swallower eine zeitumspannende Tour de Force, die Elemente aus Cervantes Don Quixote und Cormac McCarthys Blood Meridian mit einer Prise Magischem Realismus zu einem Western vermengt, der mitreißend von generationaler Schuld, Gewalt und Erlösung erzählt.
Irgendwann in den 1800er Jahren beherrschten die Sonoros das Städtchen Dorado am Rio Bravo. Alferez Antonio Sonoro wurde mit Gold in den Augen geboren – “The pain in his eyes made Alferez Antonio unsympathetic” (1). Der Sprössling einer Familie, die sich das Gold der Region in Minen lustvoll aneignet, ist er der Grausamste von allen, der, von Spaniern abstammend, in seiner endlosen Gier und Grausamkeit ein ganzes indigenes Folk auslöscht.
Mit dieser erschreckenden Tat scheint die Familie den Zenit ihrer Macht und ihres Reichtums erreicht und überschritten zu haben – ist sie verflucht? 1895 ist Antonio Sonores – Enkel von Alferez Antonio Sonoro – ein ziemlich mittelloser Bandit. Verheiratet mit zwei Kindern hält es ihn nie lange zuhause. Die Bars und Bordelle der Gegend sind seine zweite Heimat, wenn er nicht damit beschäftigt ist, Raubüberfälle zu begehen. Nun steht ein großer Coup an: In Texas wird ein Zug erwartet mit alten Schätzen der neuen Welt – also kolonialen Plünderungen.
Doch niemand will sich auf das riskante Unterfangen einlassen – bis auf seinen intellektuellen Adoptivbruder. Dessen Mutter wurde einst von Antonios Mutter mit der Kutsche überrollt und kam so in die Familie. Mit Waffen und Gewalt hat er allerdings nichts am Hut und entsprechend entpuppt er sich bei dem zum Scheitern verdammten Unterfangen als ziemlich nutzlos. Er ist eben kein bandito – und er will es nicht sein. Schon hier wird klar, es geht um Schuld und Sühne. Schuld hat beide zu Brüdern gemacht. Und eigentlich will er Antonio vom Zugraub abbringen. Doch es geht schief – Texas Ranger stellen sie, der Bruder stirbt und Antonio wird ins Gesicht geschossen, für tot gehalten und im Dreck liegen gelassen, bis ihn eine alte Hexe gesund pflegt: El Tragabalas – The Bullet Swallower – ist geboren. Er hat eine Kugel geschluckt und hat, fürchterlich entstellt, überlebt. Und anstatt der eigenen Schuld ins Auge zu blicken, sinnt er rasend auf Rache.
Our punishment is that we’re always going forward, but always in a circle (36).
1964 ist Jaime Sonoro der beliebteste Schauspieler Mexikos und der Enkel des Kugelschluckers – allerdings weiß er nichts von der grausamen Familiengeschichte. Bis plötzlich eine Frau vor der Tür steht und ihm ein stinkendes Buch übergibt – es enthält die Familiengeschichte, bereits 1783 und somit noch vor dem Schrecken Alferez Antonio Sonoros publiziert und eine in biblischen Zeiten beginnende Chronik des Grauens. Zur etwa gleichen Zeit tritt eine mysteriöse Figur in Jaimes Leben, der sich langsam durch das Buch verflucht glaubt.
El Tragabalas ist eine historisch-folkloristische Figur, die tatsächlich der Großvater der Autorin ist und hier in fiktionalisierter Form in Erscheinung tritt. Gleiches gilt für Jaime Sonoro. Elisabeth Gonzales James hat diese ihr selbst nur unzureichend bekannte Familiengeschichte als Ausgangspunkt für ihre wahrlich originelle Erzählung genommen. Der Text alterniert zwischen Antonio und Jaime sowie Auszügen der Familienchronik, wobei das Kernstück die Ereignisse um 1895 bildet. Geschichte und Folklore mischen sich zu einem explosiven, extrem gewaltvollen aber auch humoristischen Gebräu, das zwischenzeitlich über die Bekanntschaft mit dem Engländer Peter, der sich als “Gentleman Assassin“ sieht, pikareske Elemente enthält und das Gonzales James jederzeit kurz vor dem Überkochen hält.
Die Sequenzen, die Jaime in den Fokus nehmen, bilden hier eine Art Atempause und Reflektion: Inwiefern rinnt das Böse in unserem Blut, gibt es generationale Schuld und sind Vergebung und Erlösung möglich?
The Bullet Swallower ist ein packender und kluger Text, der die klassischen Themen des Westerns – Gewalt, Rache, Schuld – originell neu erzählt.
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The Bullet Swallower von Elisabeth Gonzales James ist bei Hodder & Stoughton erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor.
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