Allgemein,  Kritik,  Literatur

Die Vergangenheit wird fremd: Sinkende Sterne von Thomas Hettche

THOMAS HETTCHE Sinkende SterneMänner sind… sinkende Sterne? In Thomas Hettches neuem Roman fährt der Autor Thomas Hettche nach dem Tod der Eltern ins Schweizer Kanton Wallis. Doch etwas ist anders: Eine Naturkatastrophe hat die Rhone aufgestaut und das Tal vom restlichen Land abgeschnitten. Kurzerhand hat sich ein faschistisches Regime alter Patrizierfamilien an die Macht gesetzt. Autofiktional, intertextuell, diskurslastig und poetisch erzählt Hettche in Sinkende Sterne von Kultur, Natur, Literatur und davon, wie die Mitte nicht mehr hält.

Wissen Sie, Herr Hettke [sic!], der Transit hat die Menschen hier immer nur am Rand tangiert. Ein Zubrot war das für die meisten, und das gilt auch für den Tourismus, den die Straßen in unsere Täler brachten. Aber er hat die Seelen der Bergbewohner angegriffen, er hat sie erniedrigt, weil er sie zwang, die eigene Lebenswirklichkeit als Schauspiel aufzuführen. Das hat jetzt ein Ende (40).

Das teilt der Kaplan des Wallis Hettche mit. Der Schriftsteller kurz nach seiner Ankunft im Wallis zu ihm zitiert. Ist die ursprüngliche Bergwelt durch Transit zu einer Simulation geworden, die man nun zurückführt? Fest steht: Eine Krise hat immer auch Gewinner. Im Falle der Naturkatastrophe, die sich im Wallis zugetragen hat – ein Bergrutsch hat die Rhone zu einem neuen See aufgestaut und fast alle Zugangswege zerstört – sind das alte Patrizierfamilien, die das Ruder an sich gerissen haben. Kurz nach dem obrigen Zitat erklärt der Kaplan dem ungläubigen Schriftsteller, dass das Haus seiner Eltern enteignet würde und er auszureisen habe. Wenig später stellt der Notar Hettches Eltern Kontakt zur Bischöfin her, um ihm zu helfen. Auch hier wieder eine neue Wirklichkeit. Man philosophiert:

Wie Sie sicherlich wissen, Monsieur Hettche, waren Begriffe für Ihren Namensvetter, den Doctor Angelicus, ein Abbild der Realität der Dinge. Leider ist man seiner Weisheit nicht gefolgt, und so tobt seit Jahrhunderten ein Kampf mit wechselndem Namen: Konstruktivismus gegen Essentialismus. Diskurstheorie gegen Ontologie, you name it! Nun aber entscheidet sich endlich dieser Streit. Materie ist nicht länger von Belang. Sie ist weich, hingebungsvoll, formbar und wird von der reglementierenden Macht der Diskurse erst geschaffen, wie Saint Foucault lehrt (126).

Die Bischöfin ist dunkelhäutig und präsentiert dem Schriftsteller alsbald ihren Penis: Es ist wahrlich eine andere Wirklichkeit. Diese Reise in die eigene Vergangenheit führt den Autor, der in seiner Lehrtätigkeit aufgrund seiner Lehre eines westlichen Kanons und sextistischer Sprache ausgemustert wurde, ein großes Suchen und Hinterfragen: In einer alten Jugendliebe, die er auf der Alp wieder trifft, in der Natur, die er bildgewaltig einfängt, in der Literatur – allen voran die Suchenden Sindbad oder Odysseus -, sowie der eigenen Arbeit als Schriftsteller. Auch die postmodernen Ideen, die man in der Jugend so spannend fand, erscheinen nun, wo die Mitte nicht mehr hält und Gesellschaft in Identitätspolitik zerfällt, in neuem Licht.

Sinkende Sterne – der Titel selbst ist Referenz auf Isabelle Huppert (“Männer sind sinkende Sterne”) – ist ein zutiefst intellektueller Roman über eine aufbrechende Gegenwart voll widersprüchlicher Wirklichkeiten.

*

Sinkende Sterne ist bei KiWi erschienen.

Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.