Verena Keßler ist Autorin zweier Romane. Ihr Debüt Die Gespenster von Demmin (Rezension) wurde für verschiedene Preise nominiert und erhielt das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium. Kürzlich erschien ihr zweiter Roman Eva (Rezension), der sich aus sehr individueller Perspektive dem Thema Klimakrise nähert. Im Interview erzählt die gebürtige Hamburgerin von ihrem Werdegang, ihrer Inspiration und künftigen Projekten.
Wer schreiben und davon leben will, braucht, abgesehen von Talent, eine gewisse Flexibilität und Beharrlichkeit. Texte sind der rote Faden, der sich durch Verena Keßlers Biografie zieht. Bis zur ersten Romanveröffentlichung ist es ein langer Weg. Vor dem literarischen Schreiben kommt bei Verena Keßler das Texten. An der Hamburger Texterschmiede macht sie 2008 bis 2009 eine Ausbildung: “Da ging es um Headlines, Copys, TV-Spots, Radio-Spots usw.” Vier Jahre arbeitete sie danach fest angestellt in verschiedenen Agenturen. Dort macht sie die quintessentielle Erfahrung, die jeder Kreative in Agenturen macht: “Vor der Ausbildung hatte mich gereizt, dass man in diesem Job mit Schreiben und Kreativität Geld verdienen kann, es ist aber doch nicht so frei, wie ich es mir vorgestellt hatte: Man schreibt und denkt eben für jemand anderen, für eine Marke, die ganz bestimmte Anforderungen hat und zwischen Idee und Umsetzungen stehen so viele Leute, die mitreden, dass oft wenig von dem übrig bleibt, was man sich mal ausgedacht hat.”
2012 bewirbt sie sich schließlich zum ersten Mal am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL): “Leider wurde ich beim ersten Versuch nicht zum Auswahlgespräch eingeladen, meinen Job kündigen und studieren wollte ich aber trotzdem. Also wurde es Plan B, deutsche Literatur und germanistische Linguistik in Berlin zu studieren, wo ich aber nebenbei wieder in Teilzeit als Werbetexterin gearbeitet habe.“
Wie bist dann letztlich nach Leipzig gekommen?
Der Wunsch, selbst zu schreiben, ist immer geblieben und das habe ich auch nebenbei gemacht. Ich habe Texte zu Wettbewerben und Literaturzeitschriften eingereicht (mit mäßigem Erfolg) und mich 2014 noch mal am DLL beworben. Diesmal wurde ich zum Auswahlgespräch eingeladen, aber leider kam kurz darauf wieder die Absage. Woran es gelegen hat, darüber habe ich sehr lange gegrübelt, mittlerweile ist es mir egal. Nach dem Studium in Berlin bin ich nach Dresden gezogen, habe angefangen, freiberuflich als Werbetexterin zu arbeiten und weiter geschrieben. 2016 hab ich mich dann ein letztes Mal am DLL beworben – und endlich hat es geklappt!
Hat sich der lange Atem gelohnt?
Verena Keßler: Ich hab das Studium dort geliebt und es war für mich und mein Schreiben sehr wichtig. Ich bin dort zum ersten Mal auf andere Schreibende getroffen und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass Schreiben eine ernstzunehmende Sache sein kann, dass es realistisch ist, diesen Weg zu gehen. Die Gespräche über Texte, ob es nun die eigenen waren oder die der anderen, hat mir super viel gebracht und ich glaube, ich hätte nie ein Buch geschrieben, wenn ich das nicht gemacht hätte.
Hamburg, Berlin, Leipzig: Drei aufregende Städte. Geblieben bist du in Leipzig. Warum?
Verena Keßler: Leipzig ist für mich die ideale Stadt, es ist nicht zu klein und nicht zu groß. Ich wohne hier so zentral, dass ich alles mit dem Fahrrad oder einfach zu Fuß erreichen kann, es gibt ein bisschen Wald, ein paar Seen, der ICE braucht nach Berlin nur eine Stunde und nach Hamburg drei, die Miete ist vergleichsweise günstig, außerdem habe ich hier jetzt Freund:innen und gar keine Lust, irgendwo nochmal neu anzufangen.
Ein Ort, der bisher ungenannt blieb, ist der Schauplatz deines Debütromans, Die Gespenster von Demmin. Hast du eine Verbindung zu dem Ort? Kannst du mir etwas zur Entstehungsgeschichte des Romans erzählen?
Verena Keßler: Die Verbindung zu Demmin ist mein Mann, der dort Verwandte hat. Die haben wir mal besucht und dabei kam das Thema des Massensuizids von 1945 auf. Ich hatte bis dahin nie davon gehört und wollte unbedingt mehr darüber wissen, also habe ich angefangen zu recherchieren und bald kam auch der Wunsch auf, darüber zu schreiben. Die ersten Seiten sind dann am DLL im sogenannten “Todesseminar” entstanden, ein Seminar, in dem wir uns ein Semester lang mit dem Tod in Kunst und Literatur beschäftigt haben, Ausflüge auf den Friedhof und in die Pathologie gemacht haben, und in dem schließlich jeder einen Text dazu schreiben sollte.
Was ist dein Prozess beim Schreiben? Hat sich im Vergleich zum Debüt etwas an deinem Prozess beim Schreiben von Eva geändert?
Verena Keßler: Ich habe keinen festen Prozess, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine detaillierte Outline für mich das Ende eines Textes ist. Wenn ich schon genau weiß, was wann passiert und worauf das alles hinauslaufen soll, habe ich gar keine Motivation mehr, das zu schreiben. Das liegt glaube ich daran, dass Schreiben für mich immer die Suche nach Antworten auf bestimmte Fragen ist; ich will beim Schreiben etwas verstehen, nicht etwas, das ich schon verstanden habe, mitteilen. Ich schreibe deshalb wahrscheinlich ziemlich chaotisch, überhaupt nicht chronologisch, und ich schreibe auch viel, was dann später nicht im Text landet. Eine Sache, die bei Eva anders war als beim Debüt, war, dass ich sehr viel enger mit meiner Lektorin zusammengearbeitet habe, wir haben oft telefoniert und über die Figuren und ihre Motivationen gesprochen, über mögliche Plots und Verbindungen. Das hat mir sehr geholfen. Generell ist es für mich wichtig, während des Schreibens mit anderen über den Text im Gespräch zu sein. Ich habe auch Freundinnen, die mit mir zusammen am DLL studiert haben, und mit denen ich immer noch viel über unsere Texte spreche. Ich könnte mir nicht vorstellen, einen Text erst dann jemandem zu zeigen, wenn er “fertig” ist.
Dein aktueller Roman Eva verschränkt die Themen Klimakrise und Kinderwunsch miteinander. Was hat dich inspiriert?
Verena Keßler: Irgendwann wurde die Frage nach eigenen Kindern in meinem Umfeld sehr präsent, ich habe sehr häufig mit Freundinnen darüber gesprochen und wir haben uns alle ähnliche Fragen gestellt. Hauptsächlich ging es in diesen Gesprächen darum, was die Entscheidung für ein Kind für einen persönlich bedeutet, wie sich das Leben und die Beziehung dadurch verändern, aber auch die Klimakrise hat eine Rolle gespielt. Denn zur gleichen Zeit hat der Protest der Fridays for Future Bewegung dafür gesorgt, dass dieses Thema endgültig in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückt. Da habe ich gemerkt, dass ich beides nicht getrennt voneinander denken kann und gerne darüber schreiben würde. Besonders interessiert hat mich dabei die Spannung zwischen rationalen Argumenten und emotionalen Beweggründen.
Eva ist ein vielstimmiger Text mit vier Protagonistinnen. War es von Anfang an geplant, dass du multiperspektivisch schreiben wirst und wie hast du zu den Figuren gefunden?
Verena Keßler: Nein, ich hatte lange nur eine Ich-Erzählerin, doch mit dieser Geschichte bin ich nicht weitergekommen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich zu viel erzählen möchte für nur eine Figur, und bin so dazu gekommen, meine ursprüngliche Hauptfigur auf zwei Personen zu verteilen (die beiden Schwestern Sina und Mona waren anfangs eine Person). Eva selbst war lange nur eine Nebenfigur, sie ins Zentrum zu rücken, war eine Idee meiner Lektorin, über die ich erst nachdenken musste. An Eva hängt das ganze Klima-Thema und ich wollte keinen Themen-Roman schreiben, ich wollte keine Infos als Geschichte verpacken, sondern herausfinden, was diese Infos mit den Menschen machen. Also habe ich mich gefragt, was es eigentlich für Eva selbst bedeutet, diese Dinge auszusprechen, welche Konsequenzen das für sie hat und wie sie damit umgeht. Und ab da hat mich die Figur auch als Protagonistin interessiert. Mit der vierten Frau war es ähnlich, auch sie war lange nur eine Nebenfigur. Es geht in ihrem Teil um Trauer, sie hat ein Kind verloren, und ich war nicht sicher, ob ich davon wirklich so aus der Nähe erzählen kann. Je länger ich aber an den anderen drei Teilen geschrieben habe, desto sicherer war ich, dass die vierte Geschichte dem Buch etwas (für mich) wichtiges hinzufügen kann. Ich habe mich dann dafür entschieden, in der Sprache und Form etwas mehr vom realistischen Erzählen abzurücken, um so die Ausnahmesituation, in der sich die Figur befindet, zu kennzeichnen und zu würdigen. Ich weiß, dass einige diesen vierten Teil als weniger zugänglich empfinden, ich selbst mag ihn mittlerweile am liebsten.
Drei der Frauen in Eva sind Ich-Erzählerinnen. Eva Lohaus, die Protagonistin des zweiten Kapitels und gewissermaßen Dreh- und Angelpunkt des Textes, erscheint in dritter Person. Warum?
Verena Keßler: Als ich Eva zur Protagonistin gemacht habe, musste ich mich ihr erst annähern. Ich habe sie noch zu wenig verstanden, um „ich“ schreiben zu können. Später bin ich dann dabei geblieben, weil es mir auch gefallen hat, dass sie dadurch formal eine Sonderstellung bekommt. Es passt für mich, dass dort „sie“ steht, wo doch auch alle anderen Figuren auf sie gucken, und von dem, was sie sagt, beeinflusst sind. Außerdem kommt dadurch auch ganz einfach ihr Name viel öfter vor, was mir auch gefällt, es ist ja immerhin der Titel.
Auf deiner Website steht, dass du eine Miniserie in Entwicklung hast. Kannst du etwas über das Projekt erzählen?
Verena Keßler: Wir planen, mein erstes Buch Die Gespenster von Demmin als Mini-Serie zu verfilmen. Das Projekt ist noch in der Entwicklungsphase, zuletzt haben wir z.B. erarbeitet, wie sich der Stoff auf einzelne Folgen aufteilen lässt, was wir weglassen wollen und was noch dazukommen könnte. Jetzt kommt es unter anderem auf Entscheidungen von Förderern an, wann und wie es weitergeht.
Was liest du aktuell?
Verena Keßler: Für Seka, das Debüt von Mina Hava.
Bild: Jacintha Nolte
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