Der moderne Mensch ist kontinuierlich damit beschäftigt, sich selbst zu finden. Die Ich-Erzählerin in Bettina Scheiflingers Debütroman Erbgut sucht die Selbstverortung in der bewegten Geschichte ihrer Familie. Fragmentarisch und doch mit Weitwinkelobjektiv entsteht Seite für Seite ein Portrait, das mehr abbildet, als die eigene Sippe.
Am Anfang hat man es als Leser gar nicht so leicht, sich im Geflecht dieses Familienportraits, das sich über drei Generationen und zwei (und mehr) Länder erstreckt, zu orientieren. Das liegt daran, dass Erbgut in kurzen, selten länger als drei Seiten langen Kapiteln zwischen den Familienzweigen und Generationen springt. Bettina Scheiflinger beginnt ihre Erzählung mit den Geburten der Eltern um die Zeit des zweiten Weltkrieges. Die Großmutter mütterlicherseits kam als Gastarbeiterin in die Schweiz, die Großmutter väterlicherseits aus Österreich. Während Erstere von Amerika träumt und als Gastarbeiterin mit Ausgrenzung zu kämpfen hat, ist die österreichische Großmutter Johanna Matriarchin eines Wirtshofs, bringt den Vater Arno zur Welt, als noch Bomben fallen. Der Vater des Kindes, Franz, landet als Nationalsozialist in Kriegsgefangenschaft. Erbgut ist nicht nur ein Generationen spannendes Familienportrait, sondern auch ein Stück schweizerisch-österreichischer Geschichte.
Erzählt wird nicht chronologisch, Erbgut springt eher assoziativ von einem Zeitpunkt und Fokalisierungspunkt zum nächsten, wechselt dabei von der dritten Erzählperson (Großeltern, Eltern) zur Ich-Erzählerin. Der Titel des Romans weist dabei über die Genetik hinaus: So gibt es einerseits familiäre Vorbelastungen hinsichtlich Brustkrebs oder Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen, aber es geht auch um individuelle wie auch kollektive Erfahrungen, die wie Gene in der Familie laufen. Die Ich-Erzählerin, die hier berichtet, tritt dabei als eine Art Chronistin auf und zeigt sich selbst als Zauderin: So präzise sie hier auch die Familiengeschichte nachzeichnet mit Details, die sie unmöglich wissen kann, so schemenhaft bleibt sie dabei oft selbst. Dient die Erzählung der Familiengeschichte dazu, die Leerstellen, sprich das Schweigen über die Mitgliedschaft in der NSDAP des äußerst gewalttätigen Großvaters, zu füllen und so zu einem umfassenderen Bild von sich selbst zu erhalten? Wie dem auch sei: Manche Person aus der Familie bekommt schärfere Kontur als die Ich-Erzählerin selbst, die lange Zeit wie ein entwurzelter, zwischen der Schweiz und Österreich schwebender Geist erscheint. Oft weiß sie mit schärferem Detail aus der Vergangenheit zu berichten als über ihre gelebte Gegenwart.
Diesen Umstand könnte man vielleicht als Kritikpunkt hervorbringen, ebenso wie manchen Erzählstrang, der sich im Nirgendwo verläuft (beispielsweise die in Südafrika spielenden Kapitel von Mutter und Tante). Dennoch, mit großer Ruhe und Einfühlungsvermögen erzählt, entfaltet Erbgut einen ungeheuren Sog, der eben auch durch das Spannungsfeld aus großer Reichweite und bruchstückhaften Nahaufnahmen entsteht. Ein gelungenes Debüt.
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Erbgut ist bei Kremayr & Scheriau erschienen.
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