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Vorstellung, Sehnsucht, Hoffnung: Lamento von Madame Nielsen

Lamento von Madame Nielsen“Wie hoffen, ohne glauben zu müssen”: So wird die Liebe in einer von vielen Passagen in Madame Nielsens hervorragendem Roman Lamento beschrieben. Es ist ein Buch über das Ver- und Entlieben und der Zeit dazwischen. Lamento erzählt von zwei Künstlern, die sich an ihrer Leidenschaft verbrennen, bis sie plötzlich kalt wird, nicht mehr geht. Es ist ein Roman, wie ihn nur eine Autorin schreiben kann, die gelebt und geliebt hat, verbrannt und erfroren ist, und die über die Liebe schreiben kann, mit all dem Pathos, der notwendig ist, ohne jemals pathetisch zu klingen.

Die Liebe ist in der Zeit, im Alltag, in der Zuwendung, in Bewegungen, die sich wiederholen, in der Langeweile und den Routinen und trotz allem. Die Verliebtheit ist außer der Zeit, sie hebt sie auf, sie ist ein endlos expandierendes, leuchtendes Jetzt (39).

Lamento ist voller zitierwürdiger Passagen, aber mehr als eine Aphorismensammlung über die Liebe. Madame Nielsen öffnet den Text mit einem erzählenden Gedicht und einem Kapitel, das der Geschichte vorgreift: Ein junges Paar ist auf Hochzeitsreise in Frankreich, besucht eine Bekanntschaft und aus Unachtsamkeit fackelt man deren Wohnung ab. Die Gäste überstehen die Feuerprobe zumindest äußerlich unversehrt – die Gastgeberin nicht. Es ist ein Moment, in dem etwas zwischen den frischgebackenen Eheleuten bricht. Nur was, das lässt sich nicht so einfach beziffern.

Dieser schreckliche Moment liegt bereits zwanzig Jahre zurück. In der erzählten Gegenwart ist die Liebe Geschichte, eine Geschichte, die die Erzählerin dem aus der Beziehung entstandenen Kind hinterlässt. Abgesehen dieses Vorgriffs ist Lamento dann überwiegend chronologisch erzählt, zeichnet das Feuer der ersten Begegnungen nach, die Entscheidung zur Hochzeit, die ersten Brüche, und die Momente, in dem aus Leidenschaft Alltag wird.

Ich war am Ersticken, die Verliebtheit ist unmenschlich, zu rein, plötzlich muss man ihr einen Kratzer, eine Schramme versetzen, sie menschlich machen, damit wir Luft kriegen und in der Welt sein konnten (61).

Vielleicht war die Hochzeitsreise, die Konfrontation mit etwas Unaussprechlichem, dieser Kratzer, vielleicht auch die kleinen Verletzungen, die sich mit der Zeit in einer Beziehung anhäufen. Nach der Verliebtheit kommt nicht nur die Liebe, sondern auch das Leben: Die zwei Künstler, die einen neuen Menschen gezeugt haben, müssen sich arrangieren – mit der Verbindlichkeit einer Familie, den Bedürfnissen des Anderen. Das bedeutet auch priorisieren – Kunst, Liebe, Familie, was kommt zuerst? – und genau hier, so scheint es, liegt in Lamento der Hase im Pfeffer. Wo Verlangen war, macht sich plötzlich Verachtung breit.

Lamento ist eines der besten Bücher über die Liebe, das ich je gelesen habe. Klug, wortgewandt, leicht und schwer zugleich. Als Leser ist man gefangen von diesen zwei Persönlichkeiten im Zentrum dieser Geschichte und von Madame Nielsens Gabe, dem Unnennbaren eine sprachliche Form zu geben, die nicht alles erklärt, den Leser, diesen Voyeur, stets mit neuen Einsichten bei Laune hält. Ein Glanzstück der Erzählliteratur!

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Lamento ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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