Ein dreizehnjähriges Mädchen hungert sich zum Herzstillstand und landet in der Klinik. Dort greift sie zu einem Schreibblock und beginnt, die Familiengeschichte aufzuschreiben, vom tschechischen Urgroßvater bis zu ihren inzwischen getrennt lebenden Eltern. Lea Draegers Wenn ich euch verraten könnte ist ein atmosphärisch dicht erzählter Roman, der leider an seiner Erzählsituation krankt.
Die dreizehnjährige Ich-Erzählerin in Wenn ich euch verraten könnte fühlt sich vielleicht selbst etwas verraten: Die Großeltern sind tot, der Vater ist nach Prag gezogen und hat sie mit ihrer Schwester bei der schönen Mutter zurückgelassen. Die tschechische Frau zieht mit ihren hohen Absätzen, dem Goldschmuck und dem geschminkten Gesicht die Blicke nach sich in der Reihenhaussiedlung, in die man sich sonst ganz gut assimiliert hat. Die Erzählerin streikt jedenfalls: Sie hat aufgehört zu sprechen und zu essen, bis zum Herzstillstand, und so erwacht sie zum Beginn des Romans mit einer Magensonde, muss aufgepäppelt werden, bis sie wieder stark genug ist, um überhaupt wieder selbstständig laufen zu können.
Wenn ich euch verraten könnte alterniert zwischen kurzen Kapiteln, die schlicht mit der Ziffer 0 überschrieben sind und die die Gegenwart in der Klinik schildern sowie Kapiteln, die thematisch überschrieben sind und Aspekte ihrer Familiengeschichte aufarbeiten. Diese Kapitel sind jene Zeilen, so scheint es, die sie tagtäglich während des Klinikaufenthalts in ihr Notizbuch schreibt. Besuch von der Familie bekommt sie unterdessen nicht.
Wenn ich euch verraten könnte ist ein symbolisch aufgeladener Text. Dreh- und Angelpunkt der Familiengeschichte ist der Großvater, der auf fast jeder Seite als der Vater – immer kursiv geschrieben – auftaucht. Wer da nicht an Sigmund Freud denkt, der hat noch nie etwas von Psychoanalyse gehört. Der reale wie symbolische (Groß-)vater geistert ebenso durch den Text wie die tief religiöse Großmutter und eine Heiligenstatue, die über die Generationen hinweg vererbt wurde. Auch sie ist ein Symbol: Denn sie ist innen hohl, die Großeltern füllten sie stets mit geweihtem Wasser auf. Der Vater, selbst ein gescheiterter Schriftsteller, marginalisierte die Frauen in der Familie – die funktionieren nur über ihre Äußerlichkeit. Uns so ist die schöne Mutter letztlich auch für die Tochter ein leeres Gefäß – sie sind sich fremd.
Ebenso wiederkehrend ist das Thema Sprache: Die Großeltern wanderten aus Tschechien nach Deutschland aus. Die Herkunftssprache wurde aber nie der Erzählerin vermittelt – auf dieser symbolischen Ebene fühlt sie sich also Heimatlos.
Wenn ich euch verraten könnte ist ein aufgeladener, ambitionierter Text, der hinsichtlich seines Anliegens leider den Holzhammer präferiert. In kurzen und leicht unterkühlten Sätzen werden Gegenwart und Vergangenheit geschildert, teilweise minutiös werden Bewegungen in knappen Sätzen und doch überbetont wiedergegeben “Ich gehe den Gang entlang bis zum Treppenhaus. ich steige die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal. Dann steige ich die Treppe wieder hinauf. Ich steige so lange rauf und runter, bis ich den Atem in meiner Brust spüre” (42). Eine ent- und be-drückte Atmosphäre kriecht aus diesen Zeilen. Und doch tut sich Wenn ich euch verraten könnte schwer, Momentum zu bilden. Schwermut ist hier kaum von Pathos zu unterscheiden, die Leere der Erzählerin selbst macht den Text statisch. Ein möglicherweise intendierter Effekt: Schließlich hat die Erzählerin sich zum Herzstillstand gehungert, die Gegenwart ist nicht grundlos stets mit einer 0 überschrieben. Und doch hat man das Gefühl, eine sich ziehende Exposition zu lesen.
Ich habe eine ganze Handvoll Störungen: ich bin essgestört, verhaltensgestört, emotional gestört und entwicklungsgestört. Und es ist abzusehen, dass bald auch meine Persönlichkeit gestört ist. Erst Kinder über sechzehn bekommen diese Diagnose. Ich bin dreizehn Jahre. ich habe noch keine Persönlichkeit (73).
Lässt man die Frage beiseite, ob eine 13-Jährige sich tatsächlich so ausdrücken würde, bleibt es eine ziemlich akkurate Selbstdiagnose: Wie die Heiligenfigur, hat dieser Teenager kaum Innerlichkeit. Selbst nach hundert Seiten weiß man nicht, wer dieses Mädchen eigentlich ist. Auf symbolischer Ebene – die patriarchale Struktur, die Reduzierung der Frau auf ihre schöne Hülle – hat man den Text bis dahin durchaus schon verstanden, aber es bleiben noch 200 Seiten wiederholender, symbolisch aufgeladener Beschreibungen des Vaters, der Mutter und von Selbstverletzungen.
Lea Draeger hat einen ambitionierten Roman geschrieben. Der Wille zur Kunst ist zweifelsfrei da. Aber als Erzählung funktioniert das nur bedingt, da das Fehlen eines klassischen Plots, die fehlende Innerlichkeit und für eine 13-Jährige ungewöhnlich sachliche Ausdrucksweise die Aufmerksamkeit auf die Konstruktion des Textes lenkt. Ob seiner Themen – Heimat, Patriarchat, Körperlichkeit – wird der Roman wahrscheinlich viele Fürsprecher finden. Aber muss sich das so überfrachtet lesen? Keine Empfehlung.
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Wenn ich euch verraten könnte ist bei Hanser erschienen.
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