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Ohne Verdruss geht es nicht: Erschütterung von Percival Everett

Percival Everett ErschütterungDer Erzählband Damned If I Do war vor über einem Jahrzehnt meine erste Begegnung mit dem amerikanischen Schriftsteller Percival Everett, der seinem neuen Roman Erschütterung ein Zitat Kierkengaards als Motto voranstellt: “thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.” Also sinngemäß: Wie man’s macht, macht man’s falsch – eine Überlegung, die den äußerst produktiven Schriftsteller nun schon seit einiger Zeit zu beschäftigen scheint. Mit Erschütterung hat er zumindest alles richtig gemacht – es ist eine berührende Erzählung über einen Vater, der seine Tochter verliert und Courage findet.

Zach Wells ist Paläontologe und ein ziemlich unbemerkenswerter Kerl. So erklärt er es dem Leser zumindest auf den ersten Seiten von Erschütterung, auf denen er uns als jemand, der “endlose Stunden mit Knochen, Steinen und Sedimenten zubringen konnte” schildert und über den es eigentlich nicht viel zu erzählen gibt (10). Abgesehen von seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Dozent ist er verheiratet und hat eine Tochter, die er über alles liebt. Die Ehe ist dafür ziemlich eingeschlafen, ohne das gemeinsame Kind wäre man wohl nicht mehr zusammen. Zach führt also ein normales, wenn auch kaum bemerkenswertes Leben. Man könnte sogar sagen, er führt ein gutes Leben – schließlich lebt er von etwas, das ihn wahrlich interessiert und ihm dazu ein gutes Auskommen beschert. Dennoch: “Manche Menschen können einfach nicht glücklich sein. Und mit manchen Menschen meine ich mich” (12).

Zach ist ein Mann, der mit Vorsicht sein Leben bestreitet und Vorsicht, so sagt er, stehe dem Glück im Wege. Monotone Genügsamkeit oder wechselvolle Aufregung? Zach entschied sich für Ersteres. Doch nun bekommt sein gemächlich dahin plätscherndes Leben aus Wissenschaft und Schachspielen mit der vorpubertären Tochter drastische Ausschläge. Und die treffen dicht nacheinander ein. Er findet in einem Kleidungsstück, das er über eBay bestellt hat, eine versteckte Notiz. “Ayúdame” steht dort (“hilf mir”). Noch schlimmer ist allerdings, als sich herausstellt, dass die aufkommende Sehschwäche seiner Tochter auf einen schweren Gendefekt zurückzuführen ist und die Prognose äußerst düster ist.

Die Erzählung alterniert zwischen den Eltern, die sich erst um eine Diagnose, dann um eine Behandlung beziehungsweise Pflege der Tochter bemühen und dem universitären Alltag, in dem sich Zach den Flirtversuchen einer Studentin erwehren muss und ihn eine jüngere Kollegin um Hilfe bittet, sie bei der Verlängerung ihres Vertrags zu stützen. Und dann ist da noch dieser mysteriöse Zettel, der Zach nicht mehr loslässt und in die Wüste New Mexicos führt. Wo wir dann auch beim vorangestellten Motto angekommen wären: Denn während er in New Mexico vielleicht, vielleicht auch nicht etwas Gutes, möglicherweise Heldenhaftes unternimmt, lässt er seine Frau zuhause in einer bedrückenden Situation allein – damned if I do, damned if I don’t, sozusagen.

Erschütterung ist ein Text, der in Melodrama versinken könnte, aufgrund seiner zurückhaltenden, mal zaudernden, mal entschlossenen, aber immer klaren, jedoch nie ungekühlten Erzählstimme nie rührselig klingt. Der Roman erzählt uns davon, dass auch in unbemerkenswerten Leben Bemerkenswertes geschehen kann und das auch Untätigkeit schon eine Entscheidung ist. Macht es im großen Ganzen einen Unterschied? Wer weiß das schon. Es zeigt sich das Dilemma, was es bedeutet, ein Mensch zu sein: Tut man das Eine, unterlässt man das Andere. Sicher ist, so ganz ohne Verdruss kommen wir aus der Nummer so oder so nicht raus.

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Erschütterung ist bei Hanser erschienen.

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