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Nach dem Ruin: Harrow von Joy Williams

Harrow von Joy WilliamsEin literarisches Großereignis: Mit Harrow veröffentlicht Joy Williams – mehrfach ausgezeichnete Königen der zeitgenössischen Kurzprosa – ihren ersten Roman seit zwei Jahrzehnten. Es ist ein nicht einfach zu durchdringender Text, der irgendwann in einer näheren Zukunft spielt, in der die Erde völlig ruiniert wurde.

Joy Williams war schon immer eine Autorin mit Umweltbewusstsein. Ihr letzter Roman The Quick and the Dead drehte sich um Mädchen, die zu Öko-Terroristen wurden, ihr einziger Essayband Ill Nature detailliert, wie die prähistorische Sumpflandschaft Floridas zugunsten am Reißbrett entworfener Siedlungen trockengelegt und von seiner Wildnis befreit wurde. Wer braucht schon einen Sumpf, dachte man sich wohl. Im Kampf gegen die Klimawandel sind Feuchtgebiete allerdings doch ganz hilfreich, Milliarden werden zur Wiederbelebung der Everglades investiert. In dem Roman Harrow ist die Katastrophe unumkehrbar schon passiert. Mit der Welt aus den Fugen bleibt der Mensch, dem das alles sicher anzulasten ist, fundamental er selbst. Hauptsache Disney World bleibt in Betrieb! Williams, deren Erzählungen immer schon mit dem Absurden flirten, nimmt den Leser mit in eine unwirkliche Welt – oder besser Zeit -, in der man lieber nicht mehr in der Natur unterwegs ist, eine Welt, in der Kinder nicht mehr wissen, wie Orangen schmecken. Und so gut wie niemand ist empört.

Harrow ist ein Roman, der aus der Zeit gefallen ist: Weder wird klar, wann die Erzählung eigentlich angesiedelt ist, noch wie viel Zeit sie umspannt. Losgelöst von Temporalität lässt Williams hier wieder und wieder gespenstische Bilder der Ewigkeit (“Ewigkeit ist ein vergessenes Pferd”) sowie von Leben und Tod (oder eher Leben im Tod) einfließen. Das ist bereits in der Hauptperson des Romans, Khristen, angelegt, deren Mutter davon überzeugt ist, dass sie als Baby für kurze Zeit starb und sie daher für Großes bestimmt hält: “she was so convinced that I had died it was difficult for her to experience me as a living child, We spend long days in silence” (13).

Sie schickt das Mädchen entsprechend in ein elitäres Internat und kurz kommt der Eindruck auf, es handle sich um eine Art Coming of Age Roman – wieder so eine Zeit “dazwischen”. Der Eindruck täuscht, denn so wie es keine Jahreszeiten mehr gibt, scheinen auch Abfolgen dieser Art ausgehebelt zu sein. Schon der Weg zum Internat macht deutlich, dass Harrow ein Ideenroman ist, der sich mit dem Wesen des Menschen im Angesicht der Umweltkrise befasst. Während der Zugfahrt trifft Khristen auf eine Mitschülerin und deren Mutter, die beruflich die Natur transzendieren, “to spiritualize the wants of consumers” möchte. Die Erde ist nicht mehr der Nährboden, die große Mutter, die man achten sollte. Es ist das “moral destiny to technologically dominate the earth”, sagt sie. Wir befinden uns also in einem Zeitalter, das man gerne als Post-Erde bezeichnen könnte. Befinden wir uns schon darin?

Abgeschirmt im Internat geht es mit der Erde weiter den Bach runter. Die ökologische und soziale Krise hat zur Folge, dass das Internat schließen muss. Khristens Vater ist zwischenzeitlich verstorben, die Mutter verschwunden. Allein auf sich gestellt, wandert die Heranwachsende durch ein brachliegendes Land, bis sie im “Institut” ankommt. Hier begegnet sie einem hochbegabten 10-jährigen, der Richter werden möchte und mit dem sie sich über Seerecht unterhält (so viel zum Thema Kindheit). Sie trifft auch eine Gruppe unheilbar kranker Rentner, die sich zusammengeschlossen haben, um ihrem Leben ein besonderen Schlusspunkt zu setzen, indem sie terroristische Akte an jenen verüben wollen, die sie für den bedauerlichen Zustand der Erde verantwortlich halten. Was genau passiert ist, erfährt der Leser nicht, nur dass ein Drittel der Erde verloren gegangen ist und es keine Tiere mehr gibt.

Aber so richtig scheint das die Menschheit nicht zu jucken und ob ein paar Greise mit “kamikaze hearts” (131) für ein Umdenken sorgen werden, darf bezweifelt werden. Man erfährt nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, aber die Menschen außerhalb des Instituts machen einfach weiter mit ihren Leben, so berichtet es einer der von einer Aktion zurückgekehrten Greise:

“People who lack all sympathy are feeling better about themselves. The more a person doesn’t care the freer he becomes. The new thinking is that compassion is nothing but self-cannibalization.” [“Menschen, denen jegliche Sympathie fehlt, fühlen sich besser. je mehr einem Menschen egal ist, desto freier wird er. Das neue Denken ist, dass Mitgefühl nichts anderes als Selbst-Kannibalisierung ist”] (99).

Selbst Disney World empfängt weiter seine Gäste. Später, das Institut ist schon nicht mehr, erzählt ein weiterer der vielen Charaktere, die durch Harrow driften: “We’ve exceeded the earth’s carrying capacity and that’s a wondrous thing. Shows we can do anything” [“Wir haben die Tragfähigkeit der Erde überschritten und das ist eine wundersame Sache. Zeigt, dass wir alles tun können“] (162). Der Mensch macht sich die Erde nicht nur Untertan, er überwindet sie; und das nicht ohne Stolz. In diesem pessimistischen Bild von der Menschheit kommt dann auch der Titel des Romans zum Tragen, „Harrow“ bedeutet übersetzt „Egge“, also ein altes landwirtschaftliches Gerät, mit dem Unkraut entfernt und der Boden “geordnet” wird. Aus Harrow kann man auch harrowing machen, das bedeutet dann: erschreckend.

Harrow ist ein unheimlich wort- und anspielungsreicher Text, der auf Mythologie (Saturn der seine Kinder verschlingt), Religion und Kafka (“Der Jäger Gracchus”) verweist, voll von bissigem Humor, skurrilen Charakteren und einer ganz eigenen Temporalität, die dem Ganzen einen Anstrich der Vorhölle gibt.

Joy Williams‘ Roman Harrow ist sowohl erschreckende Prophezeiung als auch Gegenwartsbeschreibung zugleich.

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Harrow ist, wie die meisten Texte von Joy Williams, erschreckender Weise nicht in deutscher Sprache verfügbar.

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