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Was uns durch die Nacht trägt: Toronto von Kenneth Bonert

Toronto“Was uns durch die Nacht trägt” ist der Untertitel zu Kenneth Bonerts hervorragendem Erzählband Toronto und er gibt viel Preis von der unterschwelligen Stimmung, die diese vier Texte beseelt. Neben Menschen, die in Begegnungen Veränderung finden und Halt suchen, ist die kosmopolitische Stadt Toronto der eigentliche Protagonist des Bandes. Es ist eine Stadt mit eisigen Wintern, bevölkert von Zugezogenen, die sich finden und verlieren.

Die vier Geschichten in Toronto erzählen von Erwachsenen, deren Leben etwas festgefahren scheinen, bis eine Begegnung mit einem Fremden neuen Schwung bringt. In “Familienangelegenheiten” begegnen wir einer Frau Ende 40, die zwei Ehen und eine Tragödie hinter sich hat. Außerdem hat sie einen Sohn im Teenager-Alter, den sie nur abends zum Essen sieht sowie ein Haus mit einer leerstehenden Etage – ein knappes Gut in der Millionenstadt Toronto, wo, “getrieben von magersüchtigen Zinssätzen und dem Zustrom ausländischen Kapitals und wohlhabender Einwanderer” die Immobilienpreise “raketenartig” in die Höhe geschossen sind (17). Ohne Not und dennoch etwas widerwillig vermietet sie an einen jungen Künstler. Der zahlt die Miete pünktlich und verhält sich auch sonst tadellos. Alles in Butter also, könnte man meinen.. Aber schnell merkt man, dass die Protagonisten Kontakt braucht. Sie lädt zum Kaffeekränzchen bei der monatlichen Übergabe der Miete, eine Affäre entsteht und Bewegung kommt ins Spiel: Sie muss ein nicht verbundenes Trauma konfrontieren und das nun komplizierte Verhältnis zu ihrem Mieter/Liebhaber navigieren.

Die Immobiliensituation, kanadische Sitten, die Begegnung mit Fremden: Toronto ist Kennth Bonerts Liebeserklärung an diese Stadt, in der der gebürtige Südafrikaner seit seinem 17. Lebensjahr lebt. “Das Paradies” ist exemplarisch dafür. Hier verliebt sich eine junge, einigermaßen erfolgreiche Frau in einen dunkelhäutigen Einwanderer aus einem nicht näher benannten Inselstaat. Für ihn ist Toronto das titelgebende Paradies – alles funktioniert, die Menschen sind freundlich: “Alle kommen von woanders her, zumindest in früheren Generationen, aber trotzdem gehen sie anständig miteinander um – den ganzen Mist lassen sie hinter sich”, sagt er zu ihr, die etwas weniger Enthusiasmus für ihr Land an den Tag legt. Für sie ist der Respekt, mit dem sich die Leute hier begegnen, oberflächlich. Das zeigt sich dann beispielsweise, indem der studierte Einwanderer in einer Waschanlage arbeiten muss. Alle Vorstellungsgespräche laufen wunderbar, die Stelle bekommt er aber nie. So richtig kippt die Stimmung, als beide ein Haus kaufen, um festzustellen, dass ihre Straße die scheinbar einzige Wohngegend ist, die nicht verkehrsberuhigt ist. Sie, die der Verkehrslärm in den Wahnsinn treibt, wird aktiv und findet Verbündete in der Nachbarschaft, nur haben die, wie sich zeigt, ganz andere Absichten…

Toronto ist ein Glanzstück des Erzählens, das Fragen des persönlichen Glücks wunderbar unaufdringlich in das Portrait einer ganzen Stadt bettet. Die Charaktere in diesen Erzählungen finden sich, ohne sich bewusst gesucht zu haben. Es sind folgenschwere Begegnungen, Risse im Alltag, die Chancen bringen, aber nicht ohne Risiken sind, geleitet von der unsichtbaren Hand ihrer Stadt. Bonert gibt seinen Figuren wie seiner Stadt genug Raum zum Atmen, ohne unnötig zuzuerzählen oder dramaturgisch zuzuspitzen. Es ist schließlich die große Kunst guter Stories, gerade genug zu erzählen, ohne zu verkürzt zu sein oder die Seiten mit erzählerischem Bombast zu verkleistern. So unverhofft und unmittelbar, wie man in die gerade kippenden Leben dieser vier Protagonisten gelassen wird, so melancholisch verlässt man sie nach fünfzig bis hundert Seiten wieder, in der vagen Hoffnung, dass alles gut wird.

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Toronto ist bei Diogenes erschienen.

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