“Mein leben glich dem stillen Dasein eines Möbelstücks”: Der 14-jährige Ich-Erzähler aus Mieko Kawakamis Roman Heaven beschreibt so sein Leben zuhause (59). In der Schule ist er eher Boxsack, der von seinen Mitschülern gequält wird. Erst als er einen Brief in seinem Federmäppchen findet, schimmert etwas Licht in seinem tristen Alltag. Wird am Ende der Qualen etwas Himmlisches warten?
“Wir gehören zur selben Sorte” ist alles, was auf dem Briefchen steht, das Kojima dem namenlosen Ich-Erzähler schickt. Ihre Briefe kommen fortan regelmäßig. Der Erzähler ist erst einmal misstrauisch: Zu viel wurde ihm von seinen Mitschülern bereits angetan. Kreide essen und Tafelwasser trinken gehören noch zu den geringsten Übeln. Jeder Tag in der Schule gleicht einem Spießrutenlauf. Liegt es daran, dass er auf einem Auge schielt?
Kojimas Briefe geben ihm Trost, er entscheidet, zurückzuschreiben. Schließlich trifft man sich. Kojima geht in dieselbe Klasse wie er. Auch sie wird gemobbt, wegen ihres ungepflegten Auftretens. Reicht ein gemeinsames Schicksal aus, um eine starke Freundschaft zu knüpfen? Beide sind zumindest unterschiedlich. Kojima ist allen Widrigkeiten zum Trotz durchaus ein fröhliches, unternehmungslustiges Mädchen. Der Erzähler ist dafür sehr zurückhaltend, sein Leben ist Stille. Da sein Vater nie zuhause ist, ist außer Kojima seine Stiefmutter die einzige Bezugsperson.
Was ist in dieser Situation “Heaven”? Kojima lädt den Erzähler zum Besuch eines Museums ein. Dort ist ein Bild ausgestellt, das sie als “Heaven” betitelt. Darauf ist ein Paar abgebildet, das Kuchen isst. Kojima ist überzeugt, dass diesem Paar etwas Schreckliches passiert ist und sie es überstanden haben, das Zimmer, in dem sie jetzt sind, “Heaven” ist. Doch der Ausflug ins Museum wird abgekürzt, der Erzähler sieht das Bild nie mit eignen Augen, da Kojima plötzlich draußen verschnaufen muss und weint. Ist es kurios, dass Mieko Kawakami ihren Roman über Mobbing nach einem Bild benennt, das ihrem Erzähler verborgen bleibt? Es gibt dem Text zumindest eine ungute Vorahnung: Denn auch wenn sich die Zwei gefunden und eine Art Freundschaft geschlossen haben, reden sie in der Schule weiterhin nicht miteinander und müssen jeden Tag aufs Neue die Gemeinheiten der Mitschüler ertragen.
Es scheint als ertragen beide Teenager ihr Schicksal mit Stoik, wenngleich beide dabei unterschiedliche Ansätze haben. Wir erfahren, dass Kojima ganz bewusst keinen Wert auf Hygiene legt als Zeichen der Solidarität mit ihrem Vater, den ihre Mutter für einen wohlhabenden Mann verließ. Darüber hinaus ist sie überzeugt, dass ihre Stellung als die Schwachen in der Schule einen tieferen Sinn hat: Vielleicht sind ihre Peiniger abseits der Schule noch viel größere Opfer? Der Erzähler ist weitaus passiver als seine Freundin: Ihm stoßen Dinge zu, er forciert nichts. Kojima ist anders, weil sie es so will. Würde der Erzähler sein Auge korrigieren lassen, hätte er die Chance dazu?
Mieko Kawakamis Heaven ist trotz seiner nüchternen, leichten Sprache kein einfach zu ertragendes Buch. Die Quälereien, die der Erzähler über sich ergehen lassen muss, sind schwer zu lesen. Auch die Bedeutungsebenen sind nicht leicht erschlossen: Aus europäischer Sicht gelesen, erzählt Mieko Kawakami hier von einer emotional erkalteten japanischen Gesellschaft, in der man lieber nicht aus der Reihe tanzt. Interessant liest sich auch eine Passage, in der die Autorin Mobbing mit dem Lustprinzip in Beziehung setzt. Darüber hinaus fragt uns der Text, was Stärke bedeutet und was Kommunikation bewirken kann.
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Heaven von Mieko Kawakami ist bei Dumont erschienen.
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