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Zaungast des Lebens: Das Archiv der Gefühle von Peter Stamm

Das Archiv der GefühleDas Archive der Gefühle klingt als Titel erst einmal etwas bräsig nach Schmonzettenheft. Der Eindruck täuscht: Gefühle und ein Archiv spielen in Peter Stamms Roman, in dem ein namenloser Erzähler, inzwischen 55 Jahre alt, von seiner Einsamkeit und den Erinnerungen an seine große Liebe, Franziska, erzählt, tatsächlich eine essenzielle Rolle. Es ist aber kein Text verkitschter Liebe, sondern des Stillstands und des zarten Aufbruchs, der uns fragt, ob nur die unerfüllte Liebe die Zeit übersteht.

Das Archiv der Gefühle öffnet mit einem Spaziergang, den der Ich-Erzähler macht. Plötzlich gesellt sich eine Franziska hinzu. Er will ihr seine Liebe gestehen, doch als er nach ihrer Hand greifen will, fasst sie ins Leere. Franziska begleitet den Mittfünfziger nur in seinen Gedanken und dies inzwischen seit Jahrzehnten. Der Mann war lange Zeit in der Dokumentation im Verlagswesen tätig, bis sein Job aufgrund technologischer Veränderungen obsolet wurde. Das Archiv der Zeitung nahm er mit in das Haus, das er von seiner Mutter erbte. Seitdem lebt er praktisch das Leben eines Eremiten – familiäre Bindungen gibt es nicht mehr, von Freunden und Kollegen hat er sich zurückgezogen seit seiner Entlassung. Er verbringt die Tage also mit Spaziergängen und dem Weiterführen des Archivs:

Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an. Meine Aufgabe ist das Sammeln und Ordnen. Das Interpretieren der Welt sollen andere übernehmen (19).

Doch etwas drängt in ihm: Die imaginierten Unterhaltungen mit seiner Jugendliebe Franziska häufen sich. Er erinnert sich an sein Leben mit und nach Franziska, zu der er zwar kein Kontakt mehr hat, die er als Archivar aber durchaus begleitete. Sie machte schließlich Karriere als Schlagerstar und fand so auch Eingang in das Archiv.

In ruhiger Sprache und ohne große äußere Handlung blättert sich auf den nicht ganz 200 Seiten des Romans vor dem Leser ein nur halb gelebtes Leben auf: “Man konnte alles von mir verlangen, nur keine übermäßige Nähe” (23), stellt der Erzähler fest. Nun im letzten Drittel seines Lebens und ziemlich vereinsamt keimt das Bewusstsein, das Leben verpasst, nur zugeschaut, aber nicht teilgenommen zu haben. Vor allem die Frage, was aus seinem Leben hätte werden können, wenn er mit Franziska zusammengekommen wäre, lässt ihn nicht los. Wäre sie trotzdem zum Schlagerstar geworden? Wären sie glücklich gewesen? Noch drängender: Warum hat sie ihn nicht geliebt, oder hat er Zeichen falsch gedeutet? Es gab schließlich nur einen Kuss zwischen beiden, als er ihr früh als Teenager seine Liebe gestand, das Geständnis jedoch unerwidert blieb. Aber gab es da nicht Momente zwischen beiden, später, nach der Schule, die er hätte ergreifen können, dann aber von der ursprünglichen Zurückweisung zu verunsichert war?

War ich so blind gewesen, das damals nicht zu bemerken, oder war ich zu schüchtern, oder hatte ich insgeheim gar nicht mit ihr zusammenkommen wollen (92)?

Das Archiv der Gefühle ist ein Roman über ein Leben, das sich überwiegend im Kopf des Erzählers abspielt und von großer Verunsicherung und Isolation zeugt. Damit findet der Text zwischen den Zeilen durchaus viele Anknüpfungspunkte an aktuelle Themen, wie die Einsamkeit des Lockdowns und der Angst vor verpassten Gelegenheiten. Zeitgleich stellt sich natürlich auch die Frage: Ist die Liebe, die nie war, die einzig romantische Liebe? Sehnsucht kann sich hier schließlich nicht im Alltag zerstäuben. Und wie geht Selbstverwirklichung, wenn das Selbst an eine andere Person gekettet ist?

Im letzten Drittel des Romans wagt der Erzähler den Versuch, diese Fragen zu beantworten, indem er Kontakt zu Franziska sucht. Wartet Zauber oder Ernüchterung oder, wahrscheinlicher, etwas dazwischen?

Peter Stamm ist ein ruhiger, nachdenklicher, fast existenzialistischer Roman gelungen, der ob seiner Handlungsärme bei dennoch konventioneller Form nicht jeden Leser mitreißen wird.

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Das Archiv der Gefühle ist bei Fischer erschienen.

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