“Uff”, entfuhr es mir an mein Zukunfts-Ich denkend, das irgendwann vor seinem Laptop sitzen würde, also jetzt, während ich Nach der Sonne las und nicht wusste, wie soll ich darüber schreiben? Jonas Eikas Erzählband ist ein sprachlich virtuoser Zauber, vertraut und fremd, fiebrig heiß und klirrend kalt zugleich, der – durchaus politisch, aber ohne Parolen – die Realität aufschmilzt und darin Schlieren zieht.
Nach der Sonne wurde in Dänemark mit dem renommierten Nordic-Council-Literaturpreis ausgezeichnet und ist die erste Veröffentlichung des 1991 geborenen Schriftstellers, die in deutscher Sprache erscheint (Übersetzung durch Ursel Allenstein). Es sind vier Erzählungen, wobei die längste, “Bad Mexican Dog”, in zwei Teilen erzählt wird. Sämtliche Texte beginnen in einer Welt, die wir als unsere erkennen, doch brechen sie alle auf und hinterlassen den Leser mit Unbehagen. Ganz klar, hier hinterfragt jemand das, was wir als Realität akzeptieren und lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, das sie so surreal ist, wie sich Nach der Sonne liest.
Beginnen wir am Anfang: “Alvin” erzählt von einem Mann, der nach einem “fiktiven Flug” aus Malaga in seiner alten Heimat Kopenhagen ankommt. Fiktiv nimmt er den Flug wahr, weil er in einen unruhigen Schlaf fiel, andere Flugerlebnisse darin zusammenbluteten und er neben sich stehend am Ziel erwacht. Das Fliegen als fiktives Erlebnis zu erzählen, das hat was – man ist an einem Ort in der Welt, dann aus der Welt, um woanders wieder Land zu betreten. Später wird der Erzähler von Kontinuitätsproblemen erzählen. Eigentlich reist er nach Kopenhagen, um bei einer Bank als IT-Implementierungsberater zu arbeiten. Doch die Bank ist in einem Krater verschwunden – es gab wohl eine Explosion. Das Bild ist apokalyptisch: “Hinter seinem Kopf hing ein Schwarm Insekten und färbte den Himmel über den Trümmern schwarz” (9). Er setzt sich tatenlos in ein Café und wird dort von Alvin angequatscht und mit nachhause genommen. Dort verbringen beide Tage mit Derivatengeschäften, also solche mit künftigen Werten, bei denen, wie üblich, der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen darstellt. Kapitalismus in Reinform also, möchte man meinen – selbst die Zukunft kann man kaufen. Und die Maschine ist selbst durch Katastrophen nicht zu bremsen – tatsächlich arbeiten die Bankangestellten weiter in den höhlenartigen Trümmern des Bankgebäudes, als wäre nichts passiert. Ist die Maschine nicht aufzuhalten und – die Frage drängt sich ob des Bildes der Höhlenbänker auf – waren wir schon immer so?
Die ekelige Fratze spätkapitalistischer Praktiken zeigt sich auch in “Bad Mexican Dog”: Hier ist der Erzähler ein Beach Boy in Mexico. Er und die anderen Boys bringen den Strandgästen Drinks, schmieren sie mit Sonnencreme und Nachsonne ein. Besonders gewinnbringend ist es, der private Boy von Gästen zu werden. Um dies zu werden, ist es ratsam, sich “sich innerlich vollkommen leer [zu] machen” (38). Die Entpersonalisierung des Marktplatzes, die Selbtversklavung für etwas Trinkgeld und die Wertlosigkeit des Lebens: Als einer der Gäste einen der Boys ohne Konsequenz tot prügelt, driftet “Bad Mexican Dog” ins Surreale ab und zeigt die Boys als Gemeinschaft, die in einem schamanischen Ritual den Verstorbenen wieder auferstehen lässt. Es folgen fiebrige Passagen, die einem eigenen Takt folgen: “Ich kann meine eigene Stimme nicht mehr trennen von den Arschlöchern der anderen von dem Loch tiefer in mir durch das der Schmerz und das fremde Blut laufen durch die hohlen Sonnenschirmstile laufen und den Sand unter der Wanne aufweichen” (43).
Der Kapitalismus, das zeigt “Bad Mexican Dog”, funktioniert auch durch Mittäterschaft. So nimmt der Erzähler als Nebenjob Urlauber ins Visier, die er mit kompromittierenden Videos erpresst. Aus deren Perspektive wird dann zwischenzeitlich auch erzählt. Alle suchen etwas, haben Sehnsucht, die Eika in fremdartigen Visionen aufgehen lässt.
Nach der Sonne ist faszinierend, wenn auch nicht immer angenehm zu lesen. Zuweilen ist es dann aber doch zu viel Schnickschnack: Der zweite Teil von “Bad Mexican Dog” führt uns noch weiter in den Kaninchenbau seiner Strandlandschaft und dehnt die Geschichte etwas zu sehr. In “Rachel, Nevada” findet ein Mann ein Objekt in der Wüste (wir befinden uns in der Nähe von Area 52), das Tiere magisch anzieht und von dem er sich einen Teil in die Stimmlippen implantiert, um einen kosmischen Schrei loszulassen. Währenddessen ist seine Frau auf dem Weg zu einem Konzert einer fiktiven Country Sängerin, deren sprachlich uninteressante Biografie der Erzählung als Art Epilog angefügt wird. An dieser Stelle flieht das Auge nur noch über die Zeilen.
Nach der Sonne ist ein sinnlich erzählter, konzeptionell hoch ambitionierter Erzählband, der den Bogen an manchen Stellen zu weit spannt. Nichtsdestotrotz: Hier kündigt sich eine Stimme an, von der man nicht nur in Dänemark noch lesen wird.
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Nach der Sonne ist bei Hanser erschienen.