Kerze sucht nach Power: So metaphorisch aufgeladen könnte man die Handlung von Verena Güntners Roman prägnant zusammenfassen. In Power erzählt sie von dem vorpubertären Mädchen Kerze, das sich auf die Suche nach dem entlaufenen Hund (Power) einer einsamen, älteren Dorfbewohnerin macht, um die sich sonst keiner weiter kümmert. Die Suche gestaltet sich schwierig, aber Kerze kennt keine Angst und hält immer alle Versprechen. Schließlich beschwört sie damit eine handfeste Krise in ihrem Dorf herauf.
Kerze ist ein ungewöhnliches Mädchen, das in seiner offen zur Schau gestellten Entschlossenheit fast schon herrisch wirkt. Kerze gibt gern den Ton an, gibt Anweisungen, duldet keine Widerworte. Sie sieht sich als “Licht in dieser rabenschwarzen Welt” (12). Obwohl sie kalt wirkt, hat sie Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl. Es ist schließlich sie, an die sich Frau Hitschke wendet, als ihr Hund Power entlaufen ist. Sie nimmt sich der Sache an, bleibt aber bestimmt: Tränen will sie nicht sehen, duldet keine Einmischung. Mit Erwachsenen wie Frau Hitschke spricht sie wie eine Despotin: “Hitschke, das reicht, mehr Infos brauche ich nicht. Geh nach Hause, schau was im Fernseher” (12).
Nach einem kurzen Briefing durch die Bittstellerin beginnt Kerze mit ihrer Aufgabe, ihr Versprechen ist ihre Pflicht. Das Mädchen, das unter Altersgenossen eher eine Außenseiterstellung einnimmt, inspiriert mit ihrer Entschlossenheit die anderen Kinder im Dorf, die sich ihr dann recht schnell anschließen. Täglich berichtet sie Frau Hitschke von ihrem Fortschritt, kommt aber nicht weiter voran. Der Hund bleibt verschwunden, so wie vieles im Dorf verschwunden ist: Kerzes Vater, der Mann von Frau Hitschke und auch die Mutter eines anderen Dorfbewohners (“der Hubersohn”). Und bald verschwinden auch Kerze und die Kinder: Power ist irgendwo im Wald – davon ist Kerze überzeugt – und so ziehen auch sie in den Wald und werden wie Hunde. Also ähnlich wie Profiler versuchen sie sich der Sache von innen heraus zu nähern. Rudelführerin ist Kerze, die die anderen Kinder jeden Tag drillt – bald bellt sie ihre Kommandos.
Das Verschwinden der Kinder stürzt das Dorf in eine Krise – eine gebrochene Gesellschaft wird sichtbar. Die Eltern begegnen dem Verschwinden ratlos, bleiben lange tatenlos. Bis der Hubersohn – Sohn eines patriarchalisch herrschenden Farmers – das Heft in die Hand nimmt. Unfähig, die Kinder aus dem Wald heim zu holen, ist mit Frau Hitschke schnell ein Sündenbock identifiziert und eine weitere Eskalationsstufe erreicht.
Power hat etwas von einem düsteren Märchen und sollte sicher nicht als realistisch erzählter Roman gelesen werden. Hier werden viele Dinge überspitzt und die Fragen, die man sich zwangsläufig stellt, etwa warum die Eltern so lange warten, um überhaupt tätig zu werden oder warum keinerlei Behörden auf die ganze Angelegenheit aufmerksam werden, fungieren vielmehr als Schlüssel zur Interpretation dieses Textes.
Power erzählt von einer brüchigen, verrohenden Gesellschaft, in der zwischen Kindern und Eltern die Bindung fehlt. Ohne Zweifel hat Verena Güntner ihren Roman auch unter dem Eindruck der letzten beiden brütend heißen Sommer geschrieben, sodass die Frage nach der Welt, die man der folgenden Generation hinterlässt, hier implizit im Raum steht. In ihrer Entschlossenheit erinnert Kerze durchaus an eine Greta Thunberg.
Stilistisch bringt Güntner ihre Geschichte von sich radikalisierenden, sich von den Eltern abwendenden Kindern atmosphärisch dicht rüber, indem sie sich sprachlich der “einfachen Dorfbevölkerung” annähert (“die Hitschke”, “der Hubersohn”, einfacher Satzbau). Der Roman ist jedoch nicht ohne Schwächen: Sich im Inneren der Figuren ablaufende Prozesse könnten nachvollziehbarer gemacht werden. Wie ist Kerze überhaupt so unbeugsam, kompromisslos geworden? Auch ihr Positionswechsel von der Außenseiterin zur Anführerin ist so verknappt dargestellt, dass er weniger als Entwicklung erzählt wird, sondern vielmehr als bloßer Fakt vom Leser hingenommen werden muss. Nichtsdestotrotz ist Power ein gelungener Roman, auf den man sich aber einlassen können muss – anders ausgedrückt: Ein dem Realismus verfallener Leser wird hier wohl keine Freude haben.
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Power ist bei Dumot erschienen.
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