Allgemein,  Dresden,  Kritik

Kein Beipackzettel, keine Wirkung? Made in Dschermany im Lipsiusbau

Made in Dschermany Dresden LipsiusbauWenn ich ins Museum gehe, bin ich oft ganz froh, wenn mir Begleittexte Hintergründe zu den ausgestellten Exponaten vermitteln. Die aktuelle Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden in der Kunsthalle im Lipsiusbau, Made in Dschermany, setzt dezidiert auf das geschriebene Wort, ohne das der Zugang zu den ausgestellten Objekten überwiegend versperrt bleibt.

Made in Dschermany folgt der Ausstellung Separated Strings der schottischen Künstlerin Susan Philipsz, die vom 17.2. bis 6.5. zu sehen oder vielmehr zu hören war. Auch diese Ausstellung erschloss sich dem Besucher nicht ohne Weiteres: Bei der Soundinstallation wurden in der Kunsthalle mehrere große Lautsprecher aufgestellt, die ein klassisches Streicherstück abspielten – allerdings nicht simultan, sondern aufgeteilt auf 12 Kanäle. Jeder der Lautsprecher spielte also nacheinander ein Fragment aus dem ruhigen, melancholischen Stück. Eine andächtige Atmosphäre erfüllte die Kunsthalle, man erlebte Klang und Raum auf neue Weise.

Das Kunstwerk ergriff also den Raum und damit auch den sich in ihm befindenden Besucher. Die Intention der Künstlerin erschloss sich über dieses Erlebnis freilich nicht, der Geist ist eingeladen, ob der Wirkung selbst nach Sinn in der Installation zu suchen.

Oder man zog einfach das Begleitprospekt zu Rate, das am Eingang der Ausstellung auslag. Dort steht dann, dass es sich bei dem zu hörenden Stück um “Studie für Streichorchester” handelt, das der jüdische Komponist Pavel Haas im KZ Theresienstadt komponierte und auch dort aufführen lassen musste. Durch die Toninstallation im Albertinum entsteht ein – so der begleitende Text – “Klangbild der Verdrängung, Vertreibung und schweigenden Lückenhaftigkeit”, die letztlich die Einzelschicksale der jüdischen Musiker erahnbar machen sollte.

Ohne die Lektüre des Begleittextes wäre man als Besucher der Ausstellung wahrscheinlich nicht auf diesen übergeordneten Kontext gekommen. Die Frage ist nur, ob man die Installation auch ohne dieses Hintergrundwissen geschätzt hätte? Wie hätte sie gewirkt? Welche Assoziation hätten sich ergeben? Klar ist, dass der Begleittext ihr Nachdruck, eine gewisse emotionale Wucht verliehen hat, indem sie die Wirkung, die sie auf den Rezipienten hat, steuert. Sie vermittelte darüber hinaus auch ein Wissen, das vielleicht unbekannt gewesen war. Beide Rezeptionsweisen – mit oder ohne Begleittext – waren für sich interessant.

Während die Kombination aus Kunstinstallation und kontextualisierender Lektüre im Fall von Separated Strings gut funktionierte, empfand ich das bei Made in Dschermany von dem Künstlerkollektiv Slavs and Tatars anders. In der umfangreichen Begleitlektüre wird die Arbeitsweise des Kollektivs erklärt, die sich aus Kunstbüchern, “Lecture-Performances” und Ausstellungen konstituiert. “Kunst als Übersetzungspraxis wird von den Künstler*innen wortwörlich genommen”, heißt es in der Ausstellungslektüre. Die Mehrdeutigkeit von Sprache wird bearbeitet: “Warum schreibt man Dschihad, Dschungel und Dschingis Khan im Deutschen mit dem Tetragraphen [dsch] ([ʧ]), die gleich klingenden Gin oder Jeans nicht?”, ist laut Begleitheft die der Ausstellung übergeordnete Frage, die alsgleich mit der schlüssigen These beantwortet wird, dass die Zuweisung des Fremden über dessen Benennung bzw. im angeführten Beispiel dessen Verschriftlichung funktioniert. Sprache ist die ordnende Kraft menschlichen Seins. Über sie erschließen wir uns unsere Welt.

Schriftzeichen, überwiegend arabische, sind entsprechend auch in den Kunstwerken sehr prominent (was sie gleichzeitig schwer zu “verstehen” macht). Der im Ausstellungstitel präsente Laut [ʧ] selbst spielte keine weitere Rolle in den Objekten, die, für sich genommen, mich kaum ansprachen, weil sie nicht (nur) über ihre Ästhetik wirken (wollen?), sondern auf ihre in Begleittexten enthaltende Kontextualisierung angewiesen sind. Das Problem der Ausstellung ist, zumindest in meinen Augen, dass sie lieber erklären als zeigen will.

Wer Made in Dschermany besucht, muss sich also darauf einstellen, wenig zu schauen und viel zu lesen. Das Buch als Medium stiehlt den an den Wänden der Kunsthalle angebrachten Objekten die Show: Nicht nur wird im Begleitheft jedes Exponat mehr oder minder ausführlich erklärt, Barhockern ähnliche Stahlkonstruktionen sollen den Besucher vor allem zum Stöbern in ausliegenden Büchern anregen. Kunst auf sich wirken zu lassen, sich in der Betrachtung ihrer zu verlieren und eigene Bedeutungsebenen zu erschließen, ist entsprechend schwer.

Als Made in Dschermany Dresden LipsiusbauBeispiel sei “Sarazenen” genannt. Die Titelseite der Süddeutschen Zeitung wurde mit den arabischen Buchstaben für S/Z überschrieben. Der arabische Buchstabe für das S, genannt Dad, ich zitiere das ausstellungsbegleitende Heft, “wird als sehr spezifisch im Arabischen angesehen. Deshalb nennt man das Arabische auch ‘die Sprache des Dad’.” Die machtpolitischen Konsequenzen von Sprache, genauer der Transliteration, sollen mit “Sarazenen” erkenntlich gemacht werden. Doch braucht es für diesen Hinweis überhaupt noch das (visuell ohnehin uninteressante) Kunstwerk, wenn es nicht mehr als eine Art Illustration für diesen eher auf Wissensvermittlung bedachten Text ist? Und würde sich die Intention des Objektes ohne begleitenden Text überhaupt erschließen? Hätte es für sich genommen eine Wirkung, die über bloßes Schulterzucken hinaus reicht?

Made in Dschermany kunsthalle dresdenDass es doch auch anders geht, zeigt einzig das Spiegelmosaik “Resist Resisting God”: In einem aus vielen Fragmenten zusammengesetzten Spiegel finden sich untereinander die titelgebenden drei Wörter, welche man jedoch nicht aus jedem Blickwinkel erkennt. Abgesehen von der rein ästhetischen Wirkung dieses Stückes, in dem sich das Licht auf unterschiedliche Weise bricht und auf den Boden geworfen wird, ergibt sich aus der Kombination der darin enthaltenen Sprache und dem verzerrt zurück geworfenen Spiegelbild des Betrachters eine Vielzahl an Assoziationen. Es braucht keinen Beipackzettel, um sich selbstständig mögliche Bedeutungen zu erschließen: Ist die Aufforderung, die der Spiegel an den Betrachter stellt, wörtlich zu nehmen? Oder ist das Zerrbild des Betrachters der Gott, dem es zu widerstehen gilt? Was der Begleittext zu “Resist Resisting God” zu erzählen hatte, war mir plötzlich gar nicht wichtig. Das Stück hat meinen Geist angeregt, die Belehrungen des Ausstellungsheftes brauchte ich nicht.

Ich hätte mir mehr solcher Erlebnisse gewünscht. Made in Dschermany ist einer dieser Museumsbesuche, auf die man als Schulkind überhaupt keine Lust hatte. Kunstgeschichtlich ist das Projekt von Slavs & Tatars sicherlich interessant. Doch muss es gleich so verkopft sein?

*

Slavs & Tatars: Made in Dschermany ist vom 02.06.2018—14.10.2018 täglich außer montags in der Kunsthalle im Lipsiusbau zu sehen. Der Eintritt beträgt regulär 4 Euro.