Was ist das Leben, wenn es kein Ende hat? Don Delillo ist mit seinem aktuellen Roman Null K ein im besten Sinne intellektueller Roman gelungen, in dem sich der inzwischen 80-jährige Schriftsteller den großen Fragen zuwendet, darunter dem Verhältnis von Kunst und Leben, Sprache und Identität sowie der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen.
Schwer zu lesen ist Null K deswegen nicht. Nur wenigen Schriftstellern gelingt es, tiefgründige Gedanken in eine so kristalline Sprache zu übersetzen wie Delillo. Noch Jahre nach der Lektüre von Punkt Omega ist mir der Satz „Every lost moment is the life“ im Kopf geblieben und zum Begleiter geworden. Auch Null K hat diese Sätze, bei denen man innehält, um den großen Gedanken, die einem schlichten Hauptsatz innewohnen können, kurz sacken zu lassen. Natürlich sind weder Punkt Omega noch Null K reine Aphorismensammlungen ohne erzählerisches Moment. Punkt Omega war in dieser Hinsicht zugegebenermaßen beinah so karg, wie die Wüstenlandschaft, in der der kurze Roman spielt. Null K trägt hingegen mehr Fleisch auf dem philosophischen Gedankenskellett und bietet damit dem Leser auch leichteren Zutritt in den Text.
Mit knapp 300 Seiten ist Null K mehr als doppelt so lang wie Punkt Omega und in zwei ähnlich lange Teile mit einer kurzen Zwischensequenz gegliedert. Jeffrey Lockhart, der Erzähler des Romans, wurde von seinem Vater Ross zu The Convergence gerufen – einem zum Teil unterirdischen Komplex irgendwo auf dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion -, um seiner todkranken Stiefmutter Artis lebewohl zu sagen, bevor diese sich kryogenisch einfrieren lässt.
Death shall be deathless (243).
Ging es in Punkt Omega noch um eine an die Entschleunigung der Zeit gekoppelte Sinnsuche in einer Welt, in der es den großen übergeordneten Sinn schlicht nicht gibt, wollen die Lockarts in Null K diese Sinnsuche gänzlich transzendieren und nach dem Tod wiederauferstehen: Der Tod der Stiefmutter soll nur vorläufig sein. Ihr Körper soll konserviert werden, bis er durch medizinische und technologische Fortschritte neu geboren werden kann. Artis stirbt, ohne tot sein.
Es geht in The Convergence aber um weitaus mehr als um das ewige Leben. Man will die Grenzen des menschlichen Lebens ausdehnen und darüber hinaus gehen. Denn die in der Zukunft neu Geborenen werden auch eine neue Sprache sprechen, die heutige Wissenskategorien durchdringt.
We want to stretch the boundaries of what it means to be human – stretch and then surpass (71).
Die in The Convergence konservierten Menschen existieren jenseits der Zeit, sie sind, wie es an einer Stelle heißt, ahistorische Menschen, die sich aus dem sich ständig wiederholendem Kreislauf von Krieg und Zerstörung auf der Erde entkoppeln, um wiederzukehren, wenn dieser seinen verheerenden Endpunkt vielleicht schon überschritten hat. Dieses Entkoppeltsein spiegelt auch der Komplex selbst wieder: Es gibt kaum Fenster, Tag und Nacht sind kaum zu unterscheiden, fließen ineinander. Die langen Gänge und Hallen, durch die der Erzähler staunend und verloren zugleich wandelt, sind kaum dekoriert oder möbliert und geben der zeitlichen Entkopplung eine räumliche Dimension. Gebrochen wird dies lediglich durch gespenstische Skulpturen und Videoinstallationen, die sich selbst in Brand setzende Menschen, Naturkatastrophen und Krieg zeigen. Die Welt außerhalb des Komplexes wird so auf Schreckensbilder reduziert, denen die Privilegierten nichts entgegensetzen können oder wollen, außer vor ihr in einen kryogenischen Scheintod zu flüchten. Das gibt Null K den Anstrich einer Dystopie – nur spielt sie in der Gegenwart.
Es sind schließlich nicht nur Todkranke, die sich für eine bessere Zukunft konservieren lassen. Die Erzählung folgt den Gedankengängen des Erzählers, als dieser The Convergence erkundet, sich von seiner Stiefmutter verabschiedet und mit dem Vater unterhält. Dieser hatte die Mutter einst früh verlassen. Als diese starb, blickte der Vater gerade von dem Cover des TIME Magazine auf Jeffrey hinab. Die Vater-Sohn-Beziehung war also in erster Linie durch die Abwesenheit des Älteren gekennzeichnet und soll wieder zu diesem Zustand zurückgeführt werden. Denn Ross – ein weitgereister Milliardär, der sich gänzlich der Sache von The Convergence verschrieben hat – will Artis in den kryogenischen Nicht-Tod folgen – obwohl er sich bester Gesundheit erfreut. Für den zwischen Unglaube, Faszination und Entsetzen schwankenden Erzähler stellt die kryogenische Kapsel den ultimativen Schrein für das Anspruchsdenken des Vaters dar. Der Wunsch des Vaters, das eigene Leben vorzeitig zu beenden, um es letztlich zu überleben, stürzt Jeffrey in eine tiefe Krise: Was stellt man bloß mit so einem “Erbe” an?
What’s the point of living if we don’t die at the end of it? (40).
Die schnell erzählte äußere Handlung von Null K ist der Haken, an den Delillo eine Vielzahl philosophischer Fragen aufhängt. Die Frage, was ein Menschenleben menschlich macht, taucht darin ebenso auf wie das Verhältnis von Kunst und Leben. The Convergence erscheint schließlich selbst wie eine monumentale Kunstinstallation, gemacht, um das Leben zu überstehen. Erschaffen wir Kunst, weil unsere Leben endlich sind? Brauchen wir die Kunst, um auf etwas zu verweisen, das über unsere Sprache hinaus geht? Delillos Sprache entspricht diesem Gedanken und wirkt nach innen so kompakt und nach außen so kühl und geschmeidig wie eine Marmorskulptur.
Sprache spielt im Verlauf des Romans auch auf inhaltlicher Ebene eine immer zentralere Rolle. Der Erzähler scheint sich dem Strukturalismus verpflichtet zu fühlen. Schon seit seiner Kindheit ist er davon getrieben, sich über andere Wörter die präzise Bedeutung eines Wortes zu erschließen, um zu dessen Kern vorzudringen. So gibt er auch allen Menschen einen Namen, wenn ihm dieser nicht bekannt ist, um ihnen eine Bedeutung – eine Existenz in seiner Welt – zuzuweisen. In diesem Zusammenhang ist die Sprache, die in The Convergence entwickelt wird, ein zentrales Anliegen: Der Name dieser Sprache wird nur jenen bekannt sein, die sie auch sprechen. Folglich ist Sprache nicht nur ein Ordnungselement, über das wir uns die Welt erschließen, sondern eine Art Währung, die Zutritt zu einem neuen Bewusstsein und einer in kryogenischen Kammern auf ihre Geburt wartenden neuen Gesellschaftsschicht – eine neue Menschheit – gewährt. Passenderweise rekurriert der Erzähler auf Martin Heidegger und dessen Unterscheidung zwischen sein und existieren: Ein Stein ist, ein Mensch existiert. Wird die neue Sprache, die außerhalb heutiger sprachlicher Strukturen steht, eine neue Ordnung hervorbringen, dann, wenn alle anderen, die sie nicht benennen können, zu Steinen geworden sind?
An diese Überlegungen zur Sprache ist auch das Verständnis von Identität geknüpft. Während sich der Erzähler aus seinem strukturalistischen Impuls heraus fragt, ob wir überhaupt jemand sind, wenn es keine anderen Menschen gibt, wollen die Jünger von The Convergence als ahistorische Menschen gänzlich eins mit sich selbst sein und somit zu einem Bewusstsein gelangen, wo die erste und die dritte Person miteinander verschmolzen sind.
Letzterem versucht sich Delillo in einer kurzen, die beiden Hauptteile des Romans trennenden Zwischensequenz zu nähern, indem er das Bewusstsein der eingefrorenen Artis versprachlicht. Es ist die einzige Schwachstelle des Romans, der eine wahre Schatztruhe voller Anspielungen und Bedeutungsebenen ist. Null K ist ein faszinierendes Leseerlebnis mit einer hypnotisch einfachen Sprache, das selbst bei einer oberflächlichen Lektüre Erhellendes bietet und auch an die Themen von Punkt Omega anzuschließen weiß:
Ordinary moments make the life (109).
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Diese Rezension bezieht sich auf die englischsprachige Taschenbuchausgabe, wie sie 2017 unter dem Titel Zero K bei Picador erschien. Die deutsche Fassung ist als Null K bei Kiwi erhältlich.
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