Ist das ein Roman, autobiographische Essays, Memoiren? Es ist auf jeden Fall irgendwie autofiktion, Fakt und Fiktion geben sich in Madame Nielsens Mein Leben unter den Großen die Hand. Ursprünglich 2013 in Dänemark erschienen, wurde der Text von Hannes Langendörfer übersetzt und ist seit Kurzem bei Kiepenheuer & Witsch erhältlich. Es ist ein sonderbares Buch, in dem Madame Nielsen aus einer Zeit berichtet, in der sie noch mit männlicher Identität und ziemlich mittellos in Kopenhagen den großen zeitgenössischen Literaten Dänemarks begegnete. Da Hans Christian Andersen, der natürlich trotzdem durch den Text geistert, schon lange tot war, werden die Meisten davon dem deutschen Leser wohl eher unbekannt sein – ein Vergnügen ist Mein Leben unter den Großen trotzdem.
Ewig leben: Wir werden jung sein von Maxim Leo
Die Vermutung, dass des Menschen Forschungsdrang letztlich auch sein Untergang sein wird, ist nicht neu. Und es ist ein Thema, das mit neuer Intensität im gesellschaftlichen Diskurs aufflammt. Nicht umsonst war ein Biopic über Oppenheimer einer der Kassenschlager des letzten Jahres. Klimawandel, die Diskussionen um die Folgen künstlicher Intelligenz reihen sich hier ein. Wir werden jung sein von Maxim Leo widmet sich der medizinischen Forschung und ihren gesellschaftlichen Implikationen: Martin Mosländer erforscht ein Medikament zur Regeneration des Herzmuskels und hat dabei den Jungbrunnen gefunden.
Kinder des postsozialistischen Ostens: Weltalltage von Paula Fürstenberg
Ein raffinierter Roman über Freundschaft, Krankheit und das Aufwachsen im postsozialistischen Osten: Paula Fürstenbergs Weltalltage ist ein Highlight des literarischen Frühjahrs, in dessen Zentrum eine kriselnde Freundschaft steht. Dabei entfaltet sich nicht nur ein Portrait der Ich-Erzählerin und ihres besten Freundes, sondern auch des Aufwachsens im Post-Wende-Osten.
Die Vergangenheit wird fremd: Sinkende Sterne von Thomas Hettche
Männer sind… sinkende Sterne? In Thomas Hettches neuem Roman fährt der Autor Thomas Hettche nach dem Tod der Eltern ins Schweizer Kanton Wallis. Doch etwas ist anders: Eine Naturkatastrophe hat die Rhone aufgestaut und das Tal vom restlichen Land abgeschnitten. Kurzerhand hat sich ein faschistisches Regime alter Patrizierfamilien an die Macht gesetzt. Autofiktional, intertextuell, diskurslastig und poetisch erzählt Hettche in Sinkende Sterne von Kultur, Natur, Literatur und davon, wie die Mitte nicht mehr hält.
Ein Mann löst sich auf: Was der Tag bringt von David Schalko
Entfaltet sich unser Leben im Rahmen unseres Bankkontos? ist Identität nichts mehr als eine Reihe erinnerter Erinnerungen? Was der Tag bringt von David Schalko wirft eine Reihe Fragen auf über das postmoderne, post-Covid Leben anhand seines sich auflösenden Protagonisten Felix. Was bleibt von uns, wenn wir alles ablegen und nichts wollen, außer einer fremden Berührung?
Hundert Arten der Stille: Der Inselmann von Dirk Gieselmann
Ein Junge und seine Insel, die Welt als gefühlloser Ort: Dirk Gieselmanns kurzer Roman Der Inselmann ist ein atmosphärisch dichter, existentialistischer Text. In weniger Seiten führt er durch die Widrigkeiten eines ganzen Lebens, erzählt von Resilienz, von Eigensinn und Einsamkeit, von Gesellschaft und Staat.
Dem Meer so nah, so fern: So forsch, so furchtlos von Andrea Abreau
Zehn Jahre alt und schon gelangweilt: Die zwei Mädchen in Andrea Abreaus Debütroman So forsch, so furchtlos leben auf Teneriffa, aber das Meer sehen sie nur am Horizont. Fernab der Touristen tingeln sie in den Sommerferien durch ihr eher heruntergekommenes, ärmliches Viertel unterhalb eines Vulkans.
Transnationale Eliten: Schlachtensee von Helene Hegemann
Helene Hegemann betrat 2010 die literarische Bühne als 18-jährige Sensation aus der sich ein Plagiatsskandal entwickelte. Ich las dann Strobo statt Axolotl Roadkill. Heute, zwölf Jahre später, ist sie etabliert als Regisseurin und Schriftstellerin. Schlachtensee ist ihr erster Erzählband und meine erste wirkliche Begegnung mit ihr. Ein zwiespältiges Erlebnis: Hegemann hat zweifelsfrei eine eigene Stimme – und das ist schon mal viel wert – aber die einzelnen Stories in Schlachtensee lassen einen oft kalt. Es ist eine Sammlung, die kumulativ funktioniert.
Vorstellung, Sehnsucht, Hoffnung: Lamento von Madame Nielsen
“Wie hoffen, ohne glauben zu müssen”: So wird die Liebe in einer von vielen Passagen in Madame Nielsens hervorragendem Roman Lamento beschrieben. Es ist ein Buch über das Ver- und Entlieben und der Zeit dazwischen. Lamento erzählt von zwei Künstlern, die sich an ihrer Leidenschaft verbrennen, bis sie plötzlich kalt wird, nicht mehr geht. Es ist ein Roman, wie ihn nur eine Autorin schreiben kann, die gelebt und geliebt hat, verbrannt und erfroren ist, und die über die Liebe schreiben kann, mit all dem Pathos, der notwendig ist, ohne jemals pathetisch zu klingen.
Ein unheimliches Rauschen: Die rote Pyramide von Vladimir Sorokin
Manche Bücher kommen zur rechten Zeit; und so schlug ich Vladimir Sorokins neuen Erzählband Die rote Pyramide auf, als die Kulisse an der Ukraine immer bedrohlicher wurde. Nun, nachdem der Schrecken in der Realität angekommen ist, klingen diese Erzählungen, viele davon von einem mal mehr, mal weniger greifbaren Gefühl des Unheils heimgesucht, noch eindringlicher nach.