Eine Welt ohne Männer erscheint in Die Schattenmacherin von Lilly Gollackner nicht unbedingt wie eine Utopie. Das hat auch mit den Umständen zu tun: Die Erde ist 2068 durch den Klimawandel und heftigen Kriegen kaum noch bewohnbar. Ein von Ruth geleitetes Matriarchat hat Sicherheit und Stabilität gebracht. Doch nun ist sie 70 und soll durch die intelligente Ania ersetzt werden: Diese stellt unbequeme Fragen – zu im Schatten getroffenen Entscheidungen und ob man Männer nicht wieder zurückbringen sollte.
Die Niedrigsten zu unseren Füßen: Das Spiel des Tauchers von Jesse Ball
Der amerikanische Autor Jesse Ball zeigt sich als Spezialist für enigmatische, faszinierende und fantasievolle Texte. 16 Veröffentlichungen gehen bereits auf ihn zurück, Das Spiel des Tauchers ist der zweite Roman, der nun in deutscher Übersetzung (von Alexander Lippmann) erhältlich ist. Wie zuvor Zensus (ebenfalls im Luftschacht Verlag) ist es ein dystopischer Text, der fremdartig und nah zugleich ist. Es ist eine Parabel in drei Kapiteln über die Entmenschlichung des Individuums in vermeintlich fortschrittlichen Gesellschaften.
Die Vergangenheit wird fremd: Sinkende Sterne von Thomas Hettche
Männer sind… sinkende Sterne? In Thomas Hettches neuem Roman fährt der Autor Thomas Hettche nach dem Tod der Eltern ins Schweizer Kanton Wallis. Doch etwas ist anders: Eine Naturkatastrophe hat die Rhone aufgestaut und das Tal vom restlichen Land abgeschnitten. Kurzerhand hat sich ein faschistisches Regime alter Patrizierfamilien an die Macht gesetzt. Autofiktional, intertextuell, diskurslastig und poetisch erzählt Hettche in Sinkende Sterne von Kultur, Natur, Literatur und davon, wie die Mitte nicht mehr hält.
Ein Mann löst sich auf: Was der Tag bringt von David Schalko
Entfaltet sich unser Leben im Rahmen unseres Bankkontos? ist Identität nichts mehr als eine Reihe erinnerter Erinnerungen? Was der Tag bringt von David Schalko wirft eine Reihe Fragen auf über das postmoderne, post-Covid Leben anhand seines sich auflösenden Protagonisten Felix. Was bleibt von uns, wenn wir alles ablegen und nichts wollen, außer einer fremden Berührung?
Mathematik in der Anstalt: Stella Maris von Cormac McCarthy
Cormac McCarthy kehrte nach sechzehn Jahren mit The Passenger zurück auf die literarische Bühne. 89 Jahre alt und mit zahlreichen Auszeichnungen dekoriert, ist der Autor seit 2014 als Trustee des interdisziplinären Santa Fe Institute tätig und The Passenger ist augenscheinlich aus seiner Arbeit dort heraus entstanden. Es ist ein brillanter und herausfordernder Roman, dessen Thriller Plot allmählich hinter Diskussionen an der Schnittstelle zwischen Physik und Philosophie zurücktritt. Stella Maris, wenige Wochen nach The Passenger erschienen, ist sozusagen die Schwester dieses Textes. Dieses Mal werden Mathematik und Philosophie vermengt.
People are a fucking puzzle: The Passenger von Cormac McCarthy
Lange angekündigt, lange verschoben: Seinen darbenden Verehren schenkt der inzwischen 89-jährige McCarthy, dem man locker drei Klassiker der zeitgenössischen amerikanischen Erzählliteratur zuordnen kann, ein opulentes Mahl mit Nachtisch. The Passenger ist ein verschachtelter, rätselhafter Ideenroman verpackt als Thriller. Es geht um Bobby Western, Sohn eines Mannes, der an der Entwicklung der Atombombe mitwirke, dessen Trauer um die verstorbene Schwester Alicia, welche im fast zeitgleich erschienenen Roman Stella Maris die Hauptfigur ist, sowie dessen scheinbarer Verstrickung in einer Verschwörung. Klingt komplex und verwirrend? Ist es auch!
Das Wenige, das noch bleibt: Zensus von Jesse Ball
Ein Roadtrip der etwas anderen Art. In Jesse Balls eigentümlichem Roman Zensus geht ein Vater mit seinem inzwischen erwachsenen, mit Down-Syndrom lebenden Sohn, auf eine letzte große Reise. Episodenhaft und etwas beklommen fahren die zwei durch ein unbenanntes Land, um den Zensus durchzuführen und doch sich selbst zu vermessen.
Leben retten, Leben leben: Mouth to Mouth von Antoine Wilson
Buch des Jahres Verdacht: Der Amerikaner Antoine Wilson hat mit Mouth to Mouth einen schlanken Ideenroman geschrieben, der Leser über Moral, Schicksal und Kunst nachdenken lässt. Geschrieben mit leichter Feder, liest sich dieser Roman stellenweise wie ein psychologischer Thriller und wie eine satirische Rundreise durch den zeitgenössischen Kunstbetrieb.
Pornografischer Schlachthof der Romantik: I Wished von Dennis Cooper
In Dennis Coopers Werk ist eine Sehnsucht nach dem Unergründlichen eingeschrieben, die teils drastische Ausdrucksformen findet. Berühmt-berüchtigt wurde der Kult-Autor mit seinem George Miles Zyklus, einer fünfteiligen Romanfolge, deren Muse sein Jugendfreund und große Liebe George Miles war. I Wished, Coopers zehnter Roman, kehrt zurück zu dieser tragischen Beziehung voll offener Fragen. Es ist sein offen persönlichstes Buch, in dem er nicht zum ersten Mal das ausdehnt, was wir unter “Roman” verstehen.
Leben ohne Tod: Null K von Don Delillo
Was ist das Leben, wenn es kein Ende hat? Don Delillo ist mit seinem aktuellen Roman Null K ein im besten Sinne intellektueller Roman gelungen, in dem sich der inzwischen 80-jährige Schriftsteller den großen Fragen zuwendet, darunter dem Verhältnis von Kunst und Leben, Sprache und Identität sowie der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen.