Katherine Heinys gleichzeitig urkomischer wie großherziger Erzählband Games and Rituals erzählt von Figuren in ihrem Alltag und den Rissen, die sich darin auftun. Nicht selten kommt die Frage auf, ob diese überwiegend im Leben Angekommenen durch die bisherige Reise wirklich gereift sind. Games and Rituals bietet elf meisterhaft erzählte Stories über den Komfort des Alltags und den unbewussten Drang, ihm zu entfliehen.
Zuhause wurde nicht geküsst: Offene Gewässer von Romina Pleschko
Nach der scharfzüngigen Ameisenmonarchie geht es in Romina Pleschkos zweitem Roman Offene Gewässer raus aus der Stadt und rein in die Gemeinde Liebstatt. Der Leser begleitet die Ich-Erzählerin Elfi vom Kindes- ins Erwachsenenalter. Schelmisch erzählt, ist Offene Gewässer das Portrait einer eigenwilligen Person und ihrer Suche nach Geborgenheit.
Das seltsame Mädchen: Lieblingstochter von Sarah Jollien-Fardell
Ein Leben in Angst: Jeanne wächst in einem Walliser Dorf unter dem Dach eines gewalttätigen Mannes auf. Sarah Jollien-Fardells Lieblingstochter ist ein eindringlicher Roman über Gewalt und die Macht, die sie ausübt, selbst, wenn sie versiegt ist. Es ist auch ein Text über eine innere Entwurzelung und das Wallis.
Punk, Pep, Sterni: Zwischen den Dörfern auf Hundert von Lars Werner
“Alles sauber, aber nichts in Ordnung” (44): So fasst Benny die Situation bei sich zuhause zusammen. Er lebt, wie es der Titel Lars Werners Debütroman verrät, “zwischen den Dörfern” irgendwo vor den Toren Dresdens. Weil seine Eltern bei der Anmeldung fürs Gymnasium gepatzt haben, muss er jeden Morgen ins noch weiter entfernte Großenhain zur Schule. Ein Spießroutenlauf: Denn Benny ist neuerdings ein Punk und im Bus lauern Nazis.
Romeo und Julia auf dem Friedhof: Als wir Vögel waren von Ayanna Lloyd Banwo
Ayanna Lloyd Banwo Debütroman Als wir Vögel waren erzählt von einer ungewöhnlichen, magisch angehauchten Liebesgeschichte in Trinidad. Es ist ein von Mythen durchzogener Roman über kreolische Tradition und Großstadtmoderne mit Elementen des magischen Realismus.
Ach, Arthur: Less Is Lost von Andrew Sean Greer
Andrew Sean Greers 2017 erschienener Roman Less (Deutsch Mister Weniger) gewann den Pulitzer Prize. Ein urkomischer, aber auch weiser Roman über das Leben eines halb-bekannten Schriftstellers, der seinem 50. Geburtstag, der Ablehnung seines neuen Romans sowie der vermeintlichen Hochzeit seines Lovers mit einer Weltreise entfliehen will. Es ist also nicht verwunderlich, dass Greer dem durchweg sympathischen Protagonisten seines größten Erfolges eine zweite Reise gönnt. In Less Is Lost geht es einmal quer durch die USA.
Kipppunkte: Eva von Verena Kessler
Verena Keßlers Romandebüt Die Gespenster von Demmin schaffte es auf meine Bestenliste im Jahr 2020. Ihr zweiter Roman Eva steht dem Debüt qualitativ in nichts nach. Es ist ein sehr gegenwärtiger Text geworden, in dem die Autorin die Themen Klimakrise und Kinderwunsch gekonnt miteinander verschränkt. Keine Frage: Mit der Wahl-Leipzigerin wird in Zukunft noch zu rechnen sein.
Ihr Leben, ein tägliches Scheitern: Schrödingers Grrrl von Marlen Hobrack
Mara Wolf ist Anfang 20, lebt in Dresden und ist arbeitslos. Ihre Zeit verbringt sie mit Online Shopping. Was sie kauft, präsentiert sie als Schrödingers Grrrl bei Instagram, in der Hoffnung, es vielleicht als Influencer zu schaffen. Meistens bleibt sie aber depressiv im Bett liegen und überlegt sich, wie ihr das Harz IV nicht gekürzt wird. Bis sich eine Chance auftut, doch noch berühmt zu werden. Marlen Hobracks Debütroman ist ein Text über eine junge Frau mit nicht wirklich vielen Eigenschaften, der Text ist als Ganzes interessanter als auf seinen einzelnen Seiten.
Eine seltsame Frucht: Die Bäume von Percival Everett
Ein 400 Jahre währender Krieg: Dass das Thema Rassismus mit dem Ende der Sklaverei und später dem Ende der Segregation noch lange nicht beendet ist, zeigen die beständigen Berichte über tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. Percival Everett, der erst letztes Jahr ein berührendes Buch über einen Vater und seine sterbende Tochter schrieb (Erschütterung), folgt nun die satirische Kriminalgeschichte Die Bäume über seltsame Morde in Mississippi. Es ist eine komische wie erschütternde Tour de Force durch ein Amerika, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Mathematik in der Anstalt: Stella Maris von Cormac McCarthy
Cormac McCarthy kehrte nach sechzehn Jahren mit The Passenger zurück auf die literarische Bühne. 89 Jahre alt und mit zahlreichen Auszeichnungen dekoriert, ist der Autor seit 2014 als Trustee des interdisziplinären Santa Fe Institute tätig und The Passenger ist augenscheinlich aus seiner Arbeit dort heraus entstanden. Es ist ein brillanter und herausfordernder Roman, dessen Thriller Plot allmählich hinter Diskussionen an der Schnittstelle zwischen Physik und Philosophie zurücktritt. Stella Maris, wenige Wochen nach The Passenger erschienen, ist sozusagen die Schwester dieses Textes. Dieses Mal werden Mathematik und Philosophie vermengt.