In Die Trauer der Tangente von Fabian Saul kommt der Erzähler nach Berlin, um sich zu verabschieden. Er kommt zu spät: Der einstige Weggefährte stirbt ohne Gelegenheit eines Abschieds. Die Erzählung fragmentiert. Die Trauer der Tangente springt zwischen Orten, Zitaten, Zeiten, umkreist und vermeidet im Versuch, zu berühren. Es ist Herzensangelegenheit und Kopfgeburt zugleich.
Tierische Fiktion: Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret
Denkt man an Science-Fiction, denkt man oft an ferne Welten in weiter Zukunft. Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret, einer französischen Wissenschaftsphilosophin, ist jedoch wissenschaftliche Fiktion im wahrsten Sinne: Die mit Zukunftsgeschichten untertitelte Veröffentlichung gibt sich als eine Art Sammelband über Therolinguistik – ein Wissenschaftsfeld, das sich mit nicht-menschlichen Literaturen beschäftigt. Es ist ein faszinierendes, schwer zu kategorisierendes Werk, das Wissenschaft clever mit Philosophie und Literatur verwebt.
Sexueller Notstand auf der Alb: Sennentuntschi von Hansjörg Schneider
Sennentuntschi von Hansjörg Schneider ist ein Theaterstück, das 1976 erstmals aufgeführt wurde und einen kleinen Skandal in der Schweiz auslöste. Diogenes druckt den Text nun erneut ab, sowohl in Hochdeutsch als auch im Dialekt, angereichert um zwei frühe Erzählungen des Autors sowie zwei Nachworte. Das Stück greift eine Sage der Alpenregion auf und balanciert zwischen zotigem Bauernschwank und modernem Theater. Ein großer Spaß, begleitet von berauschender Prosa.
Luft: Eine für alle im DHMD
Nicht sichtbar, aber immer da: Die Luft, die uns umgibt. Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden eröffnete am 8. November feierlich die neue Sonderausstellung zu einem essentiellen aber unsichtbaren Thema. Luft erschließen wir uns über Gerüche und Geräusche. Entsprechend wurde die feierliche Eröffnung gestaltet: Eldar Blau unterhält die Gäste mit seinem “Saxo-Didge”, einem Didgeridoo, das wie ein Saxophon anmutet und großen Beifall erntet. Die Einführung der Kuratorinnen Neli Wagner und Nele-Hendrikje Lehmann wird begleitet von Frank Bloem, der Dufterinnerungen von Dresdnern durch den großen Saal wehen lässt. So kann man ein konkretes und ob seiner Unsichtbarkeit doch abstraktes Thema greifbar machen. In der Ausstellung selbst gelingt das nicht immer.
Kerker ohne Wände: Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko
Sasha Filipenko exerziert weiter das russische Gemüt. Nachdem der Belarusse mit Die Jagd einen satirischen Thriller veröffentlichte, ist Der Schatten einer offenen Tür eine neue Genreübung. Der Roman ist eine Kriminalgeschichte, zwar weniger temporeich erzählt als Die Jagd, aber nicht ungleich unterhaltsamer oder erschreckender. Die Erzählung haftet sich an den Moskauer Kommissar Koslow, der im tristen Provinznest Ostrog eine Reihe Selbstmorde von Heimkindern untersuchen soll. Das Elend, so suggeriert es der Text, lässt sich besser aushalten, wenn man das Schöne gar nicht erst kennt.
Das gespaltene Land: Im Land der Wölfe von Elsa Koester
Im Land der Wölfe von Elsa Koester nimmt den Leser mit ins ostsächsische Grenzlitz, ein fiktiver Ort, der möglicherweise für Görlitz steht, der schönen Filmkulisse, die durch die Neiße von Polen getrennt ist. Nana, Ich-Erzählerin des Romans, ist aus Berlin in die von den Nachwendejahren gezeichnete Stadt gekommen, um Katja von der Partei Zukunftsgrünen bei der Bürgermeisterwahl zu coachen und einen blauen Bürgermeister zu verhindern. Wie die Region, in die sie reist, wirkt auch sie gespalten. Ihre Reise nach Grenzlitz ist auch eine Flucht vor familiären Spannungen. Ihre Unterstützung für Katja könnte sie darüber hinaus gefährden, weil sie dem blauen Schergen Falk etwas zu nah kommt.
Caspar David Friedrich zum 250. im Albertinum und im Kupferstichkabinett
Caspar David Friedrich – wo alles begann, steht programmatisch auf dem Begleitflyer zu den beiden Geschwisterausstellungen im Kupferstichkabinett (“Caspar David Friedrich – der Zeichner”) und im Albertinum (Caspar David Friedrich – der Maler”). “Alles” begann für den bekanntesten Maler der Romantik freilich nicht in Dresden, sondern in der schönen Hansestadt Greifswald, wo man noch heute das Haus, in dem er aufwuchs, besichtigen kann. Viele Bilder bekommt man in der Geburtsstadt des Malers allerdings nicht zu sehen, einige wenige im Pommerschen Landesmuseum, aus dem in Dresden keine Leihgaben zu sehen sind. In Dresden, wo er 40 Jahre lebte und den Großteil seines Werkes schuf, sind neben dem Bestand der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Leihgaben aus u.a. Hamburg, Berlin, Wien und Schweinfurt zu sehen. Der Andrang ist groß, der Besuch der Ausstellungen gewissermaßen die Antithese zu den Stimmungen, die des Malers Bilder eigentlich evozieren.
Erinnerungen: Interne Ermittlungen von Ralph Schock
Interne Ermittlungen – das klingt nach Krimi oder Noir. Aber Ralph Schocks mit dem Paratext Erzählungen versehene Textsammlung enthält autobiografische Lebenserinnerungen des saarländer Herausgebers und Literaturredakteurs. Erinnerungen an Reisen, an Familienmitglieder, an Weggefährten und Autoren führen Leser durch die Nachkriegs-BRD, ihren drängenden und doch verschwiegenen Fragen.
Das ganze Geld muss weg: Arcus von Norbert Maria Kröll
Arcus heißt eigentlich Marcus und ist der jüngste Spross der reichsten Familie Österreichs. Er ist auch ihr schwarzes Schaf. Dem Reichtum hat er entsagt, um sich durchaus erfolgreich als Performance-Künstler durchzuschlagen. Nun, da alle Familienmitglieder verstorben sind, muss er sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass er der reichste Mann Österreichs ist. Es scheint ihn schwer zu belasten. Der Arme! Norbert Maria Krölls Roman ist eine pfiffige Satire über Familie und Kunst, in deren Zentrum ein Protagonist ist, dem man gerne mal eine Ohrfeige verpassen würde.
Lebendig begraben: Mein drittes Leben von Daniela Krien
“Nichts ist gut, absolut nichts” (S. 192) möchte Linda einem Kellner entgegenzischen, als dieser diese schlimmsten aller Fragen stellt: “Alles gut?” Wann ist schon einmal alles, wirklich alles gut? Im Fall von Linda ist alles sogar ziemlich schlecht. Daniela Kriens neuer Roman Mein drittes Leben ist ein Testament an die Unzugänglichkeit der Trauer und Verzweiflung anderer Menschen. Er ist das Portrait eines schwierigen, langwierigen Heilungsprozesses, an dessen Ende wenigstens ein Schimmer Hoffnung glimmt.