Arbeit, Luft, Liebe: Wovon wir leben, der neue Roman von Birgit Birnbacher, stellt die großen Fragen. Die Erzählerin Julia findet sich im Alter von 38 Jahren in einer Situation wieder, in der sie versuchen muss, ihr Leben neu zu denken. Aber geht das so einfach, wenn alte Gewissheiten an ihr zehren? Nachdem sie ihren Job in der Stadt verliert, kehrt sie zurück in den Ort ihrer Kindheit – und droht, steckenzubleiben.
Julia bekommt kaum Luft: Nachdem der Krankenschwester ein fast fataler Fehler unterlaufen ist, leidet sie unter starker Atemnot. Sobald sie wieder gesundgeschrieben ist, wird sie entlassen werden. Das Thema Gesundheitswesen ist für sie erledigt: Denn sie hat sich schon vor dem Vorfall unbeliebt gemacht und fühlte sich in den auf Effizienz getrimmten Prozessen im Krankenhaus irgendwann nicht mehr als “Mensch unter Menschen” (22). Das Leben, das sie zurücklässt, war weder aufregend, noch glücklich – oder bot Perspektive. Es war ein Leben bestehend aus Arbeit und Onlineshoppen und einer Affäre zu einem verheirateten Arzt
Wer keine Arbeit hat, hat auch keine Freizeit (17).
Sie lässt sich von ihrem Vater abholen und zurück in ihr Heimatdorf bringen. Hier muss sie feststellen, dass ihre Mutter nicht mehr da ist. Die hat ebenfalls ihr altes Leben zurückgelassen, in dem sie ans Haus gekettet war, während der Vater sich in der Werkstatt vor jeder Emotion versteckte und ist nach Italien abgehauen. Nun darf sich Julia um den Haushalt kümmern. Geredet wird wenig. Frischen Wind verspricht dafür die Wiederannäherung an eine alte Schulfreundin, die ihr zumindest eine berufliche Perspektive eröffnet.
Und dann ist da noch “der Städter”, ein Mann, der sich im Dorf von einem leichten Herzinfarkt erholt. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich woanders ein Fenster. Nur geht das alles so einfach? Denn die neue berufliche Option steht im Kontrast zur Liebelei mit dem Städter, der ebenfalls seinen Job aufgegeben hat und im Dorf bleiben will – aufgrund des Gewinns eines bedingungslosen Grundeinkommens für ein Jahr kann er es sich auch leisten. Schließlich wäre noch die Frage nach dem Vater, einem Mann, der, wie viele andere im Dorf, aus einem anderen, lange vergangenen Jahrhundert scheint. Zwar verbindet sie keinerlei Herzlichkeit, dennoch hadert Julia damit, ihn allein im Dorf zurückzulassen.
Wovon wir leben ist ein vielschichtiges Buch über Arbeit, ihren intrinsischen Wert für das Individuum und die Gemeinschaft sowie dessen Aushöhlung durch ökonomische Zwänge, die den Menschen zu einer Ressource machen. Es ist auch Text über Geschlecht, über das wortkarge Verhältnis zwischen Vater und Tochter sowie – in Abwesenheit – zur Mutter, welche erst spät im Leben nach der Freiheit greift. Auch dieser Aspekt ist in der Erzählung eng mit Arbeit verknüpft: Die Arbeit als Rückzugsort für Männer vor Emotionen, die Unterscheidung zwischen männlicher Arbeit und der als selbstverständlich hingenommenen Care-Arbeit von Frauen, für die es keinen Dank, keine Anerkennung gibt.
Alle Personen in Wovon wir leben haben ein ambivalentes oder instabiles Verhältnis zur Arbeit. Die einen haben ihre Jobs strukturwandelbedingt verloren, andere geben ihre auf, weil sie in mathematische Gleichungen zerfällt und sie vom Menschsein entfremdet. Im Falle von Julias Mutter war Arbeit Häuslichkeit und Zurückstecken – bis sie ihren roten Koffer nimmt und sich freischwimmt.
Birgit Birnbacher erzählt diese Geschichte über Arbeit und Geschlecht sowie dem Individuum in seinem Finden und Winden im Kontext seiner Gesellschaft unaufgeregt und unheimlich stark verdichtet. Ein Glanzstück des noch jungen Jahres.
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Wovon wir leben ist bei Zsolnay erschienen.
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