Edin ist jung und schon kaputt: In der Lagerlogistik hat er sich Anfang 20 den Rücken ruiniert. Er hält nicht mehr mit, wird entlassen. Seine Freundin steigt weiter auf, eine Einheit bilden sie nur noch in der virtuellen Welt eines Computerspiels. Atemhaut erzählt von einem Leben, das den Halt zu verlieren droht. Iris Blauensteiner macht Edin zum Avatar des Lesers, ein formaler Kniff, der über die Seiten des Buches reicht – ein immersiver Lesegenuss, der zeigt, was Literatur alles kann.
Edin gehört zu den Schnellsten in der Lagerlogistik. Er hat an seiner Arbeitsstelle seine Ausbildung absolviert und wurde übernommen. Genau wie seine Freundin Vanessa, der beruflich und privat seine ganze Aufmerksamkeit gehört: “Das Gelb ihrer Warnweste leuchtet am hellsten von allen” (11). Gemeinsam bewohnen sie eine Einzimmerwohnung, ohne sich auf die Nerven zu gehen. Gemeinsam kämpfen sie als Werwölfe in einem Computerspiel gegen Zombies. Der Leser selbst kämpft als Edin mit Vanessa. Ungewöhnlich: Atemhaut ist in der zweiten Person Singular geschrieben. So wie Edin ein Werwolf ist, ist der Leser Edin. Dieses immersive Lesen hat sogar einen eigenen Soundtrack von Rojin Sharafi verpasst bekommen, der per QR-Code abspielbar ist.
Edins Sein fußt auf zwei Säulen: Seinem körperlich fordernden Job und – damit verwoben – seine Beziehung zu Vanessa. Romantik nahe der Abhängigkeit:
Mit der Zeit hast du bemerkt, dass du dich nicht nur auf sie freust, sondern dass du sie brauchst, als wärst du mit Klebstoff beschmiert und sehntest dich nach einer Fläche, mit der du dich verbinden kannst, bevor der Klebstoff wieder trocknet (12)
Während Edin beim Spiel im virtuellen Raum mit Vanessa ein Held sein kann, ohne Schaden zu fürchten, hinterlässt das Leben als Held der Arbeit bald spuren:
Kisten schieben, Rollwägen bewegen, anhalten. Du stemmst, schiebst, knirscht, in die Knie gehen, strecken, zugreifen, fallen lassen. Du rammst dir ein Paket in den Bauch. Die Stelle färbt sich blau und lila (27).
Atemhaut, angesiedelt noch vor der Jahrtausendwende, also zu einer Zeit, in der man sich noch geräuschvoll über Modems ins Netz einwählte und “EDV-Kenntnisse” in Stellenanzeigen noch ausgewiesen und nicht stillschweigend vorausgesetzt wurden, erzählt von Arbeitsbedingungen, die man so auch heute sicher noch in vielen Logistikzentren beobachten kann. Es ist aber auch eine Zeit fortschreitender Automatisierung. Die Trennung zwischen physischer und virtueller Welt beginnt, sich aufzulösen.
Die Physis des Seins ist aber noch nicht überwunden: Erst zwei Jahre nach Ende der Ausbildung macht Edins Rücken schlapp. Eben noch der Schnellste, ist er jetzt entbehrlich – aus Kostengründen wird er entlassen. Weiterarbeiten in seinem Ausbildungsberuf kann er ob des Rückens nicht mehr: “In einer Welt, in der alles teuer ist, hast du für deine Freiheit geschuftet, und nun soll das alles nutzlos gewesen sein?” (41).
Atemhaut zeigt uns hier einen undankbaren Kapitalismus, der nur belohnt, was man heute noch erledigen kann und in dem man fallen gelassen wird, wenn eine Maschine die Arbeit langfristig kosteneffizienter besorgen kann. Während Edin die Orientierung verliert, steigt Vanessa auf. Für sie heißt es: Raus aus der Halle, rein ins Büro dank EDV-Weiterbildung.
Es kriselt. Edin zieht sich in sich zurück, weiß nicht, wie er sein Leben gestalten soll, ist in sich “verknotet” (131), verfolgt dabei aber – vom Leser lange unbemerkt – ein ganz eigenes Projekt.
Blauensteiner ist mit Atemhaut ein erstaunlicher Text gelungen – präzise, schnörkellos und doch eigen. Die Autorin bedient sich dabei zweier Kniffe, die in anderen Händen vielleicht zu hohlen Gimmicks verkommen wären. Dass sie dem Buch einen Soundtrack mitgibt – eine metallische, gleichsam dröhnende wie geheimnisvolle Soundkulisse – ist nicht spielentscheidend, aber ein Pluspunkt, der noch ausbaufähig gewesen wäre. Denn die drei Tracks, die den Roman in drei Bewegungen gliedern, sind zu kurz, um den Leser zu begleiten. Vielleicht sind sie eher als musikalische Zwischenspiele gedacht, die auf die folgenden Seiten einstimmen sollen.
Der zweite Kniff ist die zwar nicht neue, aber seltene Wahl der Erzählperspektive, die der Autorin hervorragend gelingt. Iris Blauensteiner hat sich mit ihrem zweiten Roman also nicht nur viel vorgenommen, sie bringt es auch überzeugend aufs Papier. Form und Inhalt sind untrennbar miteinander verwoben, sie gestatten nicht nur eine Immersion in den Text, sie bilden auch die Lebenswelt ihres Protagonisten und dessen letztlich fast schon posthumane Anwandlungen wunderbar ab. Sie nutzt das Spiel mit der Erzählperspektive sogar, um ihren Text ohne dramaturgisches Tamtam und dafür umso überzeugender zu ende zu bringen. Ein absolut gelungenes Werk, das sich die Möglichkeiten der Literatur zu nutzen macht: Sowohl seine Form als auch die nie um originelle Bilder verlegene Sprache bringen den Inhalt erst zum Klingen. So und nicht anders soll es sein.
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Atemhaut ist bei Kremayr Scheriau erschienen.
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