Carmen Buttjers Romandebüt Levi verhandelt Erwachssenwerden und Verlust auf flott erzählte und durchaus eigenwillige Weise. Der elfjährige Levi hat seine Mutter verloren, klaut ihre Urne während der Beerdigung und streunert verloren durch Berlin. Orientierung geben ihm dabei zwei väterliche Freunde,- das Verhältnis zum eigenen Vater ist distanziert und wird durch einen schlimmen Verdacht zusätzlich belastet.
Die Handlung von Levi ist schnell erzählt: Der Roman beginnt auf der Beerdigung der Mutter, atmosphärisch gesehen ist es nicht Trauer, die durch durch diese ersten Seiten sickert, sondern ein Gefühl des Verlorenseins und der Aggression zwischen Vater und Sohn. Levi reißt schließlich im Streit die Urne der Mutter an sich und flüchtet von der Trauerfeier, um auf dem Dach seines Wohnhauses in Berlin Mitte ein Zeltlager zu beziehen – für unbestimmte Zeit. Der Kontakt zu anderen Menschen beschränkt sich auf den Kioskbesitzer Kolja, ein ehemaliger Kriegsfotograf, in dessen Vergangenheit ebenfalls traumatische Verluste lauern, sowie Vincent, einem Mann um die 30, der eine Etage über Levi wohnt.
In kleineren Rückblenden erfährt man, dass Levi mit seinen Eltern oft umgezogen ist. Die Ehe der Eltern schien unglücklich zu sein. Der Vater glänzte dabei durch Abwesenheit:
Er war Anwalt und stritt gerne und kam meistens erst nach Hause, wenn ich schon eingeschlafen war, wohingegen es morgens andersherum war. Da war er schon weg, obwohl er noch in der Küche stand (7).
Das Verhältnis zur Mutter war näher, wenn auch nicht unproblematisch: Sie war Pathologin und nahm Levi häufig mit zur Arbeit. Vielleicht nicht die beste Umgebung für ein Kind. Bei der Arbeit wurde die Mutter auch umgebracht – Levi war da, als es passierte. Der Mordfall ist eines der Mysterien in diesem Text. Zu diesen Mysterien zählt auch Vincent, ein undurchsichtiger Typ, der Levi mit durch Berlin nimmt, ohne dass dieser wirklich durchblicken kann, was es mit ihm auf sich hat. Auch dem Leser bleiben aufgrund der Erzählperspektive (erste Person Präteritum) tiefere Einsichten verwehrt. Auch die Probleme zwischen Levis Eltern bleiben schemenhaft. Etwas mehr Kontur erfährt dafür Kolja, durch den einige Kapitel des Romans erzählt werden – allerdings hier in der dritten Person. Diese Kapitel erzählen von Koljas Leben als Kriegsfotograf und den Menschen, die er während dieser Tätigkeit in Krisengebieten verloren hat. Einen Bezug zur Handlung in der Gegenwart gibt es dabei kaum – er ist eher auf thematischer Ebene zu finden, darin, wie der Tod eines Menschen nicht dessen Ende ist, da dessen Verlust in den Hinterbliebenen ohne Ende bleibt.
Und so mäandert der Text wie Levi durch die Straßen Berlins. Der Junge will seinem Vater aus dem Weg gehen. Auch glaubt er, ein Tiger hat seiner Mutter das Leben genommen. Zusammen mit Vincent versucht er, diesem Tiger eine Falle zu stellen. Warum sich Vincent des Jungen annimmt, bleibt rätselhaft. An manchen Stellen erinnert Levi dabei an Holden Caulfield, dem Antihelden aus Der Fänger im Roggen. Beide Jungs kommen aus gut situiertem Elternhaus und irren mehr oder minder auf sich allein gestellt durch eine Metropole. In diesem Sinne ist Levi ein durchaus klassischer Coming of Age Roman, geprägt durch den Auszug aus dem Elternhaus, um in der Welt Erfahrungen zu machen und schließlich die kindliche Unschuld zu verlieren. Ein Klassiker wie Der Fänger im Roggen ist Buttjer mit Levi allerdings nicht geglückt.
Dass der Verlag Galiani Berlin Levi als einen der “eigenwilligsten literarischen Debütromane der letzten Jahre” vermarktet, hat durchaus seine Berechtigung, wenngleich auf formaler und sprachlicher Ebene hier nichts passiert, was man anderswo nicht auch schon gesehen hätte. Besonders ist sicherlich, dass der Roman elliptisch ist, ohne eine elliptische Sprache zu haben. Das ist in der Erzählsituation begründet: Denn als elfjähriger Junge kann Levi nicht wirklich durchdringen, was um ihn herum geschieht – besonders angesichts der mentalen Überforderung, die der gewaltsame Tod der Mutter darstellt. Gleichzeitig ist der Text aber nicht im direkten Erleben, sondern in der Vergangenheitsform erzählt. Das äußert sich darin, dass die Sprache des Textes nicht unbedingt die eines Kindes ist – es gibt also eine gewisse, nicht näher bestimmte Distanz zwischen Erzählen und Erleben. So werden wieder und wieder poetische Beschreibung der Wetterverhältnisse metaphorisch aufgeladen. Die sprachliche Eloquenz ist nicht die eines Elfjährigen. Diesen Bruch zwischen inhaltliche Ellipse und sprachlicher Ausgestaltung hat in der Tat eine eigenwillig Wirkung, hat mich während des Lesen jedoch mehr gestört als begeistert. Ein weiteres Element, das für mich inkonsequent blieb, sind die Kapitel, die sich dem Kioskbesitzer Kolja widmen, da sie zum eigentlichen Geschehen in der Gegenwart des Textes wenig beitragen und davon etwas losgelöst wirken.
Trotz dieser Kritikpunkte ist Levi dennoch ein interessantes und ja, eigenwilliges, literarisches Debüt. Sehr schön erschafft Buttjer ihren Helden mit seiner kindlichen Fantasie und bringt den Text zu einem sowohl spannungsgeladenen wie stimmigen Ende, auch wenn sie viele Fragen dabei offen lässt und der Text insgesamt von einer radikaleren Erzählsituation (Präsenz) profitiert hätte.
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Levi ist bei Galiani Berlin erschienen.