Was das Lesen angeht, war Alexa Hennig von Lange so etwas wie meine erste Liebe. Ihr Debütroman Relax (1997) war einige Wochen das Gespräch auf dem Pausenhof, weil er die gängigen Vorstellungen von Literatur, die man als Jugendlicher durch den Deutschunterricht so hat, sprengte: Ein aufregendes Wochenende in Berlins Technoszene, erzählt in rasend schneller, rotziger Sprache, endlos unterhaltsam, witzig und verblüffend. Jetzt, beinah zwanzig Jahre später, ein Wiedersehen: Im August erschien Hennig von Langes neuer Roman Kampfsterne bei Dumont.
Alexa Hennig von Lange zählte Ende der 90er zusammen mit Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum) und Christian Kracht (Faserland) zu den bekanntesten Vertretern der deutschen Popliteratur. Während Stuckrad-Barre inzwischen eher als Essayist in Erscheinung tritt, hat Alexa Hennig von Lange wie ein Uhrwerk Jahr für Jahr neue Romane veröffentlicht, darunter viele Kinder- und Jugendbücher (für Ich habe einfach Glück erhielt sie 2001 den Jugendliteraturpreis). Ihre Texte schreibt Alexa Hennig von Lange meistens in der ersten Person Präsenz, ihr Sound ist zwanzig Jahre nach Relax noch immer unmittelbar, ungefiltert und rasant.
In Kampfsterne kehrt sie auch zurück zum multiperspektischen Erzählen ihres Debüts. Doch erzählen dieses Mal nicht zwei Personen hintereinander von einem Wochenende. Es kommt gleich eine halbe Vorstadtsiedlung zu Wort. Hennig von Lange jongliert also mit vielen Ich-Erzählern auf dafür recht kurzen 220 Seiten. Die Autorin ist gut darin, diese vielen Stimmen durch sprachliche Eigenarten voneinander zu differenzieren. Aber manchmal verhebt sie sich dabei. Einige Protagonisten bleiben blass, weil sie nur kurz zu Wort kommen. Die noch jungen Kinder geraten zuweilen arg wortreich, beispielsweise wenn ein achtjähriges Mädchen detailliert beschreibt, wie es “über den sonnenbeschienenen, roten Backsteinplatz” rennt (49) oder über König Herodes sinniert. Diesem Kritikpunkt könnte man natürlich entgegnen, dass Kampfsterne in einer bildungsbürgerlichen Siedlung spielt, deren Kinder – so bemerkt es der jugendliche Johannes – “die Leistungsgesellschaft am Laufen halten” sollen (150).
Kindheit, Unschuld und wie die eigenen Eltern Anteil daran haben, dass sie sich auflöst, ist eines der zentralen Anliegen des Romans: Alles in dieser Siedlung zielt auf die Optimierung und Erfüllung von herbei gewünschten Potentialen. Die Kinder werden zum Ballet, Musikunterricht und Intelligenztest geschickt. Man vergleicht sich und die Kinder miteinander, der Nachbar ist irgendwie auch Konkurrent. Die meisten Figuren in Kampfsterne sind entsprechend unerfüllt. Und aus genau dieser unheilvollen Konstellation braut Alexa Hennig von Lange jede Menge Drama.
Dreh- und Angelpunkt der meisten Geschehnisse ist Rita, in deren Gedankenwelt der Leser auf den ersten Seiten des Romans abtaucht. Geradezu argwöhnisch betrachtet sie die Tochter ihrer vermeintlich besten Freundin Ulla, um im selben Atemzug darzulegen, wie ihre eigene Familie an ihren hohen Ansprüchen scheitert. Die eigene Tochter ist nicht liebreizend genug, der Sohn ein Nerd, der Mann ein “total verknorzelter Typ” (9). Es sind also eher bittere Gedanken, die sie beschäftigen, während sie scheinbar gewohnheitsmäßig schon tagsüber Rum trinkt.
Die Welt ist zu.
Aber über mir ist so viel Himmel (50).
Auch Ulla hat ihr eigenes Päckchen zu tragen. Sie wird von ihrem leicht reizbaren Mann geschlagen, unternimmt aber nichts dagegen. Von Rita, zu der sie sich regelmäßig flüchtet, bekommt sie kaum Unterstützung. Und das, obwohl sie es eigentlich besser wissen: Kampfsterne spielt während der 80er Jahre – die 68er Jahre kennen sie noch aus erster Hand. Die studierten Frauen schwadronieren gerne über das Patriarchat, Simone de Beauvoir und Susan Sontag. Von der Theorie können sie aber wenig ins echte Leben retten.
Kampfsterne bearbeitet also gleich zwei Baustellen: Nicht nur die Sünden der Eltern gegenüber ihren Kindern werden thematisiert, sondern auch ins Wanken geratene Geschlechterrollen und uneingelöste Versprechen. Immer wieder blicken Figuren aus ihrer Siedlung hinauf in den offenen Himmel. Trotz vieler Privilegien erscheint die Welt beengt. Alexa Hennig von Lange hat sich mit ihrem neuen Roman also einiges vorgenommen. Der Roman wirkt zuweilen entsprechend atemlos: Die Ereignisse überschlagen sich besonders im letzten Drittel der Erzählung.
Es ist einfach zu viel los: Insgesamt elf Erzähler lässt Alexa Hennig von Lange auf ihre Leser los. Ein frauenschlagender Macho, ein verweichlichter Kulturwissenschaftler, eine latente Lesbe, eine betrogene Ehefrau, eine promiskuitive Teenagerin und dazwischen ein paar Grundschulkinder formen ein perspektivisches Wirrwar, das den Roman atemlos wirken lässt. Zum Ende hin überspannt die Autorin ohne Not den dramaturgischen Bogen immer weiter, sodass der schöne, elegische Schlusspunkt, den sie am Ende setzt, leider etwas verpufft. Das ist schade, denn der Ansatz ist gut: Alexa Hennig von Lange zeigt anhand divergierender Ausprägungen von Sexualität und Geschlecht, wie schädlich es sein kann, diese des Ansehens wegen in tradierte Normen pressen zu wollen. Und dass man bei dem Versuch, die fehlende Erfüllung über die Kinder zu kompensieren, diesen nicht gerecht wird. Aber braucht es dafür elf Erzähler, die in wenigen Tagen so viel erleben, als wären sie die Darsteller einer Soap Opera? So wie die für Hennig von Lange typisch im Präsenz verankerte Erzählsituation ist der Roman zu sehr im Moment gefangen. Man fühlt sich etwas an #metoo erinnert: Eine Enthüllung jagt die nächste, zu schnell, um sie zu sortieren.- Die Kampfsterne sind überhitzt.
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Kampfsterne ist bei Dumont erschienen.