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Überwuchert: Stammzellen von Alina Undermuth

Rezension zu Stammzellen von Alina UndermuthIn Alina Undermuths neuem Roman Stammzellen hat eine weltumspannende Gesundheitskrise alles im Griff: Die Dendrose genannte Erkrankung lässt die Betroffenen binnen Monaten zu Bäumen werden. In Stammzellen begleiten wir Ronja, Notfallärztin und ehrenamtliche Dendrose-Beraterin, über ein Jahr in ihrem Leben. Neben einem symptomatischen Kribbeln in den Zehen ist da eine sich entwickelnde Beziehung zu Elio: Welche Form der Verwurzelung begleiten wir hier?

In ihren Danksagungen schreibt Alina Undermuth, dass ihr die Idee zu Stammzellen im Jahr 2022 kam. Das macht natürlich Sinn: Der Roman entstand also unter dem Eindruck der ausklingenden Corona-Pandemie und ihren gesellschaftlichen Begleiterscheinungen, insbesondere ein verstärktes Aufkommen von Verschwörungstheorien. Neben diesem aktuellen Zeitbezug ist hier natürlich der Klimaspekt zentral. Denn dass in der Baumwerdung der Menschen so etwas wie die Rache der Natur an rücksichtsloser Ausbeutung und Verdrängung anklingt, ist kaum zu überhören.

Stammzellen ist also gewissermaßen eine an sehr aktuellen Themen heraus entstandene Dystopie. Sie liest sich aber in erster Linie wie eine behutsam erzählte Beziehungsgeschichte. Die nur zaghaft in Gang kommende Romanze zwischen beiden Protagonisten spielt die eigentliche Hauptrolle. Die Dendrose ist gewissermaßen der Kontext, in dem diese Liebe gedeiht. Schließlich beschäftigt sich Ronja schon von Berufs wegen mit dem Thema, das als weltumspannende und zunehmende Bedrohung ohnehin viel Raum in der Gesellschaft einnimmt. Spannung kommt auch ins Spiel durch das immer wiederkehrende Kribbeln in den Zehen, das Ronja verspürt – könnte sie selbst betroffen sein von einem vielleicht atypischen Verlauf?
Während die Krankheit ganz konkret Menschen verwurzelt, ist Verwurzelung in klassischen Beziehungsmodellen ein weiteres Thema hier, das beispielsweise mit Nina, der besten Freundin Ronjas, sowie Ronjas Mutter, die diese frühkindlich verließ, kontrastiert wird.

Es lässt sich entsprechend konstatieren, dass die Autorin in der Dendrose eine vielschichtige Metapher für gesellschaftliche und individuelle Themen gefunden hat. Das ist die große Stärke dieses Textes. Die Schwäche liegt in der ästhetischen Ausgestaltung. Der Text kommt nur sehr behäbig voran und verpasst es, Tempo aufzunehmen. Undermuth findet immer wieder schöne Formulierungen, doch scheint etwas zu sehr gefesselt ans Schönschreiben. Stattdessen läuft der Text wieder und wieder in Beschreibungen und Reflexionen, die ihm Tempo nehmen und die Sicht auf die ja durchaus interessanten Themen überwuchern. Gegen Mitte des Romans müssen Lesende einer zwei Absätze dauernden Beschreibung beiwohnen, wie Ronja ihr Fahrrad putzt. Dies dient der Hinführung zu einem Dialog mit ihrer Freundin Nina – Fahrradfahren selbst ist zwar eine Leidenschaft Ronjas, ist in der Szene aber nicht handlungsrelevant. Auch der Dialog selbst wird wieder und wieder von Beschreibungen, Erinnerungen, Reflexionen unterbrochen – anstelle des an und für sich spannenden Austauschs zwischen den beiden Frauen.

Auch als die dramatische Fallhöhe im letzten Drittel des Romans ansteigt, kann sich die Autorin überbordend beschreibende und reflektierende Passagen nicht verkneifen, obwohl die Personen und Orte der Handlung bereits umfassend eingeführt sind. Leerstellen und Reduktionen hätten hier eine größere Wirkung erzeugen können.
Also: Ein im Keim überaus interessanter Text, der in seiner Ausführung jedoch überreif schmeckt.

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Stammzellen von Alina Undermuth ist bei Kremayr & Scheriau erschienen.

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