Wer den neuen Kurzgeschichtenband Starke Meinung zu brennenden Themen von Etgar Keret beschreiben will, kann aus dem Vollen schöpfen: absurd, traurig, kurzweilig, rätselhaft, pointiert, verrückt, vernünftig – das sind einige der Adjektive, die passen. Stark am Puls der Zeit vereint Starke Meinung zu brennenden Themen über dreißig Erzählungen von erstaunlicher Originalität mit hoher Qualitätsdichte. An manchen Stellen könnte man meinen, der israelische Autor läutet das Post-Anthropozän ein.
„Eine Welt ohne Selfiestick“ eröffnet den Band stark und justiert den Leser: Zwar ist die Erzählung mit zehn Seiten eine der längeren und damit zumindest in ihrem Umfang nicht unbedingt exemplarisch, aber hinsichtlich Vorstellungskraft und Verbindung von Humor und tiefer Traurigkeit ein absolutes Paradebeispiel. Der Erzähler ist außer sich: Denn seine Freundin, die er kürzlich aus New York nach Australien verabschiedet hat, steht plötzlich in einem Coffeeshop vor ihm! Er rastet kurz aus, bis sich seine vermeintliche (Ex-)Freundin als Äquivalent aus einem Paralleluniversum erklärt. Sie macht mit bei einer Gameshow, bei der die Kandidaten in andere Universen geschickt werden und dort herausfinden müssen, was diesem im Vergleich zum eigenen fehlt. Der Erste gewinnt eine Menge Geld, die anderen müssen ihre restlichen Tage in der falschen Welt fristen.
Viele der hier versammelten Texte bringen surreale Elemente ein, mit denen der Autor – und auch seine Figuren – spielen. In „Director’s Cut“ wird ein Film erschaffen, der minutiös das Leben seiner Hauptfigur einfängt und entsprechend mehrere Jahrzehnte dauert. In „Eichhörnchen“ glaubt der sterbenskranke Opa an die Seelenwanderung. Nach seinem Tod glaubt ihn die Großmutter als aggressives Eichhörnchen wiederzuerkennen. Magie muss nicht unbedingt real sein – man muss nur an sie glauben.
Surreal-real sind dann vor allem jene Texte, die sich mit virtuellen Welten beschäftigen. In „Solo“ bekommt jeder Mensch zur Bekämpfung der Einsamkeit einen perfekt auf ihn abgestimmten Compagnon. In „Polarbär“ spielt die auf künstlicher Intelligenz basierende Suchmaschine Sigmund verrückt, in „Ohne Reue“ zieht die Menschheit ins Metaversum und ist glücklich – bis ein neues Update zur Zeitschleife führt.
Der Mensch, so könnte Kerets These lauten, ist sein eigener Fallstrick. Das ist traurig, aber auch komisch zugleich. Seine Geschichten atmen von absurden Einfällen und allzu menschlichen Charakteren. Es sind Kurzgeschichten im klassischen Sinne: prägnant, sie beginnen in medias res und enden pointiert. Manche rauschen zu schnell vorbei, haben einen skizzenhaften Charme ohne erzählerisches Moment. Wirklich stark sind Erzählungen wie „Eichhörnchen“, „Eine Welt ohne Selfiestick“ oder die ohne jeden Gimmick einfach berührende Erzählung „Gesundheitszigarette“, weil sie sich etwas Zeit geben, um den durchaus parabelhaften Texten eine emotionale Tiefe zu verleihen, die hängen bleibt.
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Starke Meinung zu brennenden Themen von Etgar Keret wurde von Barbara Linner übersetzt und ist beim Aufbau Verlag erschienen.
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