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Verlust und Vermeidung: Dead in Long Beach, California von Venita Blackburn

Dead in Long Beach, CaliforniaDas Unglück ist passiert, wenige Minuten bevor Carol in das Apartment ihres Bruders Jay läuft. Eben hat sie noch mit ihm telefoniert, jetzt liegt er leblos im Bett. Selbstmord. Dead in Long Beach, California nähert sich dem Trauma über die Vermeidungsstrategie seiner Protagonistin. Die findet eine Nachricht ihrer Nichte Khadija auf Jays Telefon – und antwortet ihr als Jay. Venita Blackburn, die sich mit zwei Short Story Bänden einen Namen machte, hat einen originellen, fast schon bizarren Roman über Trauer geschrieben, der leider nicht vollends überzeugt.

“We are responsible for telling this story, mostly because Carol cannot” (83). Der erste Satz zeigt die Sprachlosigkeit, mit der Carol auf den Tod des Bruders reagiert, bereits an. Aber wer ist “we”? Carol ist eine erfolgreiche Science-Fiction-Autorin, Auszüge aus ihrem Werk wurden in den Text geflochten und sind aus derselben Perspektive geschrieben. Beide Texte sind also verknotet, die Erzählperspektive ein Vexierspiegel. Carol selbst “spricht” in diesem Text nicht mit einer Stimme – und nimmt zumindest am Smartphone die ihres Bruders an. Auch sonst tut sie, als wäre nichts geschehen. Carol nimmt an einer Science-Fiction-Convention teil, trifft Freunde zum Brunch, hat Tinder-Dates und lässt Jay über sein Handy weiterleben, beantwortet eingehende Nachrichten und erstellt in seinem Namen sogar Social Media Profile.

Das traumatische Erlebnis schickt sie zugleich in die Vergangenheit: Das Aufwachsen als Lesbe in einer konservativen African-American Community, der Sorgerechtsstreit zwischen Jay und Khadijas Mutter, in die sie selbst verknallt war sowie das Verhältnis zu den inzwischen verstorbenen Eltern werden aufgearbeitet.

Venita Blackburn greift mit ihrem ambitionierten Projekt nach den Sternen. Sowohl in der erzählten Gegenwart als auch in Carols Science-Fiction erörtert die ominöse Erzählstimme – eine Art posthumanistische KI – die komplizierten und widersprüchlichen Emotionen und Verhaltensweisen der Menschen. Entstanden ist daraus ein vielschichtiger Text über Verlust, Vergebung und Bewältigung voll kluger wie humorvoller Momente, dem dennoch die emotionale Durchschlagskraft fehlt. Jay bleibt ein Enigma, Carols Science-Fiction, die hier ausgiebig zitiert wird, bleibt fragmentarisch und mutet mehr wie ein Gimmick an, das zu viel Raum einnimmt. Obwohl der Schreibstil unterhaltsam ist, liest sich der Text verwirrender und langsamer, als es die ersten Seiten vermuten lassen. Dead in Long Beach, California ist trotzdem ein lesenswerter, origineller Roman, der allerdings etwas Geduld erfordert.

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Dead in Long Beach, California von Venita Blackburn ist bei Farrar, Straus and Giroux erschienen. Eine Übersetzung ins Deutsche liegt noch nicht vor.

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