Allgemein,  Kritik,  Literatur

Menschliches Material: Zeremonie des Lebens von Sayaka Murata

Menschliches Material: Zeremonie des Lebens von Sayaka MurataPullover aus Menschenhaar, Happy Future Food, Trauerfeiern, die in kannibalistischen Orgien münden: Sayaka Muratas Zeremonie des Lebens ist ein bemerkenswerter Erzählband, der vor allem durch inhaltliche Originalität zu überzeugen weiß. Die Japanerin erzählt mit verblüffender Selbstverständlichkeit von einer teils ungeheuerlichen nahen Zukunft (oder alternativen Realität?) und lässt den Leser die Sitten hinterfragen, in denen er lebt.

Nana liebt ihren neuen Pulli aus reinem Menschenhaar. Alle beneiden sie um den edlen Stoff, nur ihr Verlobter nicht: Der kann sich beim besten Willen nicht anfreunden mit dem Usus, Gegenstände aus Verstorbenen herzustellen. Droht die gemeinsame Zukunft daran zu zerbrechen? “Ein herrliches Material” ist nur eine der vielen verblüffenden Geschichten, die Sayaka Murata den Lesern auftischt. Es ist eine einfache, aber originelle Idee, die über einen leichten Ekeleffekt hinausweist: Auf den ersten Seiten denkt man noch an Mode und Kapitalismus, eine Verwertungsmaschinerie zur Profitmaximierung. Doch schnell zeigt sich: Das ist zu kurz gedacht. Es geht um Ethik. Nanas Verlobter findet, die Weiterverarbeitung der Toten sei ein pietätloses Sakrileg. Doch Nana fragt: “Aber das mit anderen Lebewesen zu tun ist okay, oder was? Die Verstorbenen zu recyceln, zeichnet uns als höhere Wesen aus. Statt die Körper unserer Toten zu vergeuden, verwerten wir sie weiter, nutzen sie für unsere Zwecke, und sie sind uns dienlich. Ist das nicht wunderbar? (14)”. So unappetitlich der Gedanke ist, so hat sie ein gutes Argument. Normalität ist eine Frage der Zeit und des Konsens. Das Tabu von heute ist die Mode von morgen.

Ganz ähnlich ist die Titelgeschichte. “Zeremonie des Lebens” spielt zu einer Zeit, in der sich Bestattungsrituale in Japan drastisch gewendet haben. Es ist gewissermaßen ein Erfordernis der Zeit: Denn es gibt immer weniger Geburten, jeder Tod ist ein gesellschaftlicher, nicht nur ein privater Verlust. Und so hat es sich ergeben, dass beim Tod eines Menschen fortan Zeremonien des Lebens gefeiert werden: Der Dahingeschiedene wird zur aufwändig zubereiteten Speise. Gestärkt von dessen Fleisch ziehen sich die Trauergäste zurück, um neues Leben zu zeugen.

Nicht jede Erzählung in Zeremonie des Lebens ist derart drastisch. In “Mein wunderbarer Esstisch” hilft die Erzählerin ihrer Schwester dabei, für die zukünftigen Schwiegereltern zu kochen. Sie ist ein harter Fall: Als Kind zog sie sich in eine Fantasiewelt zurück, in der es eigene Speisen gibt. Diese sollen nun serviert werden. Doch wie sich zeigt, hat jede Figur in dieser Erzählung ganz eigene Essgewohnheiten. Des einen Ekel ist des anderen Genuss.

In “Ausgebrütet” ist Haruka dabei, ihre Hochzeit zu planen. Ihr Problem: “Dass ich keine Persönlichkeit hatte, merkte ich als Studentin” (251). In jedem sozialen Kreis adaptiert sie eine von außen an sie herangetragene Rolle. Nun, als diese unterschiedlichen sozialen Kreise bei ihrer Hochzeit aufeinandertreffen sollen, steht sie vor der kniffligen Frage, als welche ihrer Persönlichkeiten sie nun heiraten soll?

Zeremonie des Lebens ist ein satirisches Sittengemälde Japans – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es sich hier um einen Erzählband und nicht um einen dicken Roman handelt. Immer wieder thematisiert Murata in verfremdeter Form gesellschaftliche Ereignisse, ganz besonders Hochzeiten, und hinterfragt damit tradierte gesellschaftliche Praktiken, impliziert dabei aber auch die Frage nach der Zukunft.

Zeremonie des Lebens ist ein überraschender, origineller und unterhaltsamer Band – ein Highlight dieses Bücherjahres.

*

Zeremonie des Lebens ist bei Aufbau erschienen.

Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.