Wenn Leslie Jamison auf dem Buchumschlag in eine Linie mit Joan Didion und Susan Sontag gereiht wird, sind das ziemlich große Schuhe, in denen die Amerikanerin aber wunderbar laufen kann. Es muss schreien, es muss brennen liest sich weniger aufregend als der Titel dieses Essaybandes, aber genau das ist seine Stärke. Ein Glanzstück der teilnehmenden Beobachtung, furchtlos darin, für den Leser unentdeckte Ecken der Welt genauso auszuleuchten wie die Schreibende selbst.
Manche Bücher, hat man das Gefühl, enthalten die ganze Welt. Beinah ohnmächtig steht man vor diesen vierzehn Essays, wenn man wiedergeben will, worum es eigentlich geht. Das liegt nicht nur an der Bandbreite, die uns teils abseitige Ecken der Welt zeigt, sondern auch die Detailversessenheit, mit der Leslie Jamison versucht, sie einzufangen. Ein übergeordneter Faden, der sich durch diese Texte zieht, ist die subjektive Interpretation der objektiven Welt – und das schließt Leslie Jamison, die sich in einigen Texten auch selbst zum Thema macht, natürlich mit ein. Sie als Autorin ist immer involviert – wie sie die Fakten arrangiert, mit wem sie spricht, welche Schlüsse sie zieht – und thematisiert diesen Umstand auch. Das führt unter anderem zu der Frage, ob der Journalist nicht zwangsläufig das Subjekt seiner Reportagen verkauft – sich in ihre Leben schleicht, ihr Vertrauen gewinnt, um sie auf dem Papier letztlich zu entblößen. Leslie Jamison gibt also gar nicht erst vor, die Wahrheit über irgendetwas zu präsentieren, sondern lediglich die Wahrheiten, die sie gefunden hat. Genau diese Subjektivität, in der die Schreibende immer Teil der Reportage ist, macht diese Essays paradoxerweise so wahrhaftig. Die Nähe, die sich in Es muss schreien, es muss brennen nicht nur zu den Objekten der Beschreibung sondern auch zur Beschreibenden selbst ergibt wirkt, man kann es nicht anders ausdrücken, in ihrer Subjektivität erstaunlich objektiv.
Die Texte in Es muss schreien, es muss brennen sind so arrangiert, dass sie sich von der Beobachtung eines Themas hin zu Selbstbeobachtung bewegen. Von Essay zu Essay wird es also persönlicher und macht dem Leser auf Metaebene die Gratwanderung zwischen Objektivität und Subjektivität journalistischen Schreibens transparent. Betrachten wir also exemplarisch drei Texte aus Anfang, Mitte und Ende.
“52 Blue” eröffnet Es muss schreien, es muss brennen. Hier macht sich Leslie Jamison auf die Spur eines Blauwals, dessen Laute Anfang der 90er von den Hydrophonen einer amerikanischen Marinestation eingefangen wurden. Tatsächlich spielt der Wal, der 52 Blue getauft wurde, gar keine Rolle – niemand hat ihn je gesehen. Jamison zeichnet gewissermaßen die Rezeption seiner Laute nach: Denn 52 Herz ist für Blauwale eine ungewöhnliche Frequenz, die normalerweise Frequenzen zwischen 15 und 20 Herz zur Kommunikation nutzen. Der Schluss daraus ist, dass Blue auf der falschen Frequenz funkt, um von seinen Artgenossen gehört zu werden und folglich – so zumindest die Annahme – ein Leben lang ohne Partner ganz allein durch die Weltmeere schwimmt. Erst Jahre nach der Entdeckung von 52 Blues von Artgenossen wohl unverstandenen Geräuschen entwickelte sich in der nicht-wissenschaftlichen Welt ein Hype um diese – Achtung, subjektive Interpretation – tragische Lebensgeschichte: Menschen auf der ganzen Welt fingen an, sich mit 52 Blue zu identifizieren – ob seiner vermeintlichen Individualität oder Einsamkeit. “52 Blue” beschreibt also eher magisches Denken als einen Wal, über dessen wahre Lebensumstände absolut nichts bekannt ist. Nach einer Reihe Interviews mit Wissenschaftlern aber auch Fans des Wals gelangt Jamison schließlich zu folgendem Rückschluss – ihrer Interpretation: “52 Blue steht nicht nur für einen einzelnen Wal als Metapher der Einsamkeit, sondern für die Metapher als Balsam der Einsamkeit an sich” (42).
In der Mitte von Es muss schreien, es muss brennen schreibt Jamison in “Maximale Beleuchtung” über die Fotografin Annie Appel, die während eines Mexico-Trips auf María trifft – einer jungen Mutter – und sie mit ihrer Tochter fotografiert. Daraus entsteht eine lebenslange Beziehung, in der sich die Grenzen zwischen Beobachterin und Beobachtetem, zwischen Subjektivität und Objektivität, vollends auflösen. Jamison beschreibt den unersättlichen Drang der Fotografin, alles festzuhalten, zu dokumentieren, ohne aber jemals genug zu haben. Vielleicht ist genau das, was Jamison an dieser Geschichte selbst so faszinierend findet: Ihre Essays sind von einer erstaunlichen Detailfülle, das Hadern mit dem Punkt, wenn man genug hat, tropft aus jeder ihrer Zeilen.
Der Drang, auch das letzte Detail festzuhalten und das Unerschrockene, sich dabei selbst Preis zu geben, tritt im letzten Drittel noch deutlicher hervor, als Jamison sich selbst und ihre Familie näher beleuchtet. Als sie sich in einen alleinerziehenden Mann verliebt, den sie später auch heiratet, schreibt sie über die Stiefmutter als Archetypus. “Purzelbäume”, der letzte Text der Sammlung, ist schließlich ein Brief an ihre eigene Tochter, die sie mit eben diesem Mann bekam.
Es muss schreien, es muss brennen ist ein Triumph essayistischen Schreibens, der uns die Welt in ihren kleinen, verborgenen, persönlichen Ecken zeigt. Uneingeschränkte Empfehlung.
*
Es muss schreien, es muss brennen ist bei Hanser Berlin erschienen.
Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.