Bryan Washingtons Debütroman Memorial (deutsch: Dinge, an die wir nicht glauben) löst das große Versprechen seines Erzählbands Lot ein und macht noch einen großen Schritt nach vorn. Lakonisch, vulgär und unheimlich intim erzählt Washington von Benson und Mike, deren Beziehung nach vier Jahren ihrem Endpunkt zuzulaufen scheint sowie den chaotischen, längst zerfallenen Familien der beiden Männer. Berührend, komisch, vielschichtig – Memorial ist ein Triumph.
Hin und wieder blättert man ein Buch auf, dass sich so gelebt anfühlt, wie die zerwühlte Couch, die das Cover von Memorial ziert. Benson und Mike sind ein, wie man in Amerika sagen würde, mixed-race couple, das seit gut vier Jahren zusammen ist und nicht weiß, ob es noch ein fünftes geben wird. Wie man ein Zuhause macht und darin zufrieden bleibt, konnten sich beide nicht von ihren Eltern abschauen, was vielleicht noch darin erschwert wird, dass sie als nicht-binäres Paar nicht so ohne Weiteres dem Handbuch für ein erfülltes Leben folgen können.
Die Frage, ob man einfach weitermacht, wird dadurch erschwert, dass Mike überstürzt nach Japan reist – auf unbestimmte Zeit. Denn just als ihn seine Mutter Mitsuko zum ersten Mal nach langer Zeit aus Tokio in Houston besuchen kommt, erfährt er von der schweren Krankheit seines Vaters Eiju, der in Osaka lebt. Die Familie lebte lange Zeit in Houston, brach aber an der Armut und dem Alkoholismus des Vaters auseinander. Sohn und Vater haben sich seit Jahren nicht gesehen, Mike möchte ihn nun auf seine letzten Tage begleiten und bezieht seinen Partner in diese Entscheidung nicht mit ein. Benson bleibt dafür mit seiner vielleicht-vielleicht-auch-nicht Schwiegermutter Mitsuko im kleinen Haus zurück.
Dieser erste von drei Abschnitten ist wie auch der letzte aus Bensons Perspektive erzählt. Wir tauchen ein in sein Leben, wie er und Mitsuko sich langsam annähern, wie er seinen Lebensalltag in Houston bestreitet und wie er sich zurückerinnert, an viele kleine Momente, die heute ganz groß werden (“a non-decision is a choice in itself” [42]) und in eine Beziehung, die in einem zunehmend enger gezogenen Kreis aus heftigen Streits und Versöhnungssex dreht. Wir lesen von seiner Familie, zu der auch er ein distanziertes Verhältnis hat und die ebenso am Alkoholismus des Vaters zerbrach, von seiner Arbeit als Erzieher, von der Gentrifizierung des Viertels Third Ward (“white kids keep the cops away” [10]), verpassten Gelegenheiten (“I still hadn’t learned that there is a finite number of people that will ever be interested in you” [11]) und – möglicherweise – einem neuen Mann. Interaktionen zwischen Benson und Mike gibt es dafür kaum – die Wortlosigkeit wird immer lauter.
Im Mittelteil schildert Mike seine Erfahrungen in Japan. Während die von Benson erzählten Passagen im Ton zwischen lakonisch und melancholisch pendeln und von einer Knappheit sind, die einzelne Kapitel nur einen Satz lang sein lässt, ist Mikes Teil ein gewaltiger Wortschwall und um einiges schnoddriger (fucking ist sein liebstes Adjektiv). Darin ähnelt er seinem mürrischen, homophoben Vater, den er dabei unterstützt, dessen kleine Bar zu führen. Wie Benson hat auch Mike seine Vergangenheit aufzuarbeiten – das führte ihn schließlich auch nach Osaka – und wie Benson begegnet er einem Mann, der eine Zukunft darstellen könnte.
Wie auch schon bei Lot ist es die raue Sprache, das Ohr für unausgesprochene Dinge und die Lebendigkeit, mit der die Orte hier leben, die Bryan Washington auszeichnen. Doch anders als bei Lot, das sich zuweilen durchaus kühl anfühlte und den Charakteren nicht immer genug Eigenleben einflößen konnte, ist Memorial ein sehr intimes Buch geworden, voller kleiner Weisheiten über Menschen und ihre Beziehungen, darüber, im Erwachsenenleben anzukommen und damit eine gewisse Entzauberung zu akzeptieren, das dennoch auch sexy ist und immer wieder mit bissigem Humor glänzt (“I’m fluent in fine, says Mitsuko. Fine means fucked” [26]). Ein großartiger Text!
*
Die besprochene Ausgabe von Memorial ist bei Atlantic erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor. UPDATE: Am 17. August 2021 erscheint der Text unter dem Titel Dinge, an die wir nicht glauben bei Kein & Aber.
Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.