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Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht von Gavin Francis

Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht von Gavin FrancisDie Sehnsucht nach Inseln hat sich in der gegenwärtigen Situation nur verstärkt. Eine Woche Mallorca, das muss scheinbar sein, selbst wenn schon der Naherholungsurlaub problematisch erscheint. In der F.A.Z. war neulich zu lesen, dass die Nachfrage nach eigenen Inseln unter den Superreichen im letzten Jahr stark gestiegen sei. Gavin Francis, seines Zeichens praktizierender Arzt und insula-phil, schrieb Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht bereits 2019, doch das Thema Isolation, das bei Inseln immer mitschwingt, ist, wie Francis im Vorwort feststellt, drängender als zuvor.

Der Durchschnittsdeutsche denkt beim Wort Insel wahrscheinlich an von Palmen gesäumte Sandstrände, tropische Paradiese, weit entfernt, exotisch, verheißungsvoll. Gavin Francis nimmt den Leser bevorzugt mit in kühlere, zum Teil polare Regionen. Oft zieht es ihn auf die nahe Inselwelt Schottlands, aber auch weiter weg: Immer wieder nimmt er sich vom eher städtischen und hektischen Leben als Arzt zurück an entlegene Orte (ironischerweise findet sich in dem Buch keine Erwähnung von Großbritannien als Insel):

Zwischen den Verlockungen von Isolation und Verbundenheit lag eine Spannung, die ich gar nciht unbedingt aufzulösen versuchte – oder aufzulösen hoffte (21).

Begleitet von Kartenmaterial entführt uns Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht in kleinen Anekdoten zu den schroffen Falklandinseln und Südgeorgien, die schottischen Orkneyinseln, Spitzbergen, und die Färöer. Ähnlich ungewöhnlich dürfte die Reise zur orthodoxen Mönchsrepublik Athos sein. Exotik ist eben nicht gleich tropisch. Es ist ein wahres Inselhopping, das den Leser mitunter auf einer Seite von Shetland zu den Azoren führt. Zu vielen Inseln kehrt der Text an späterer Stelle – je nach thematischem Überbau des jeweiligen Kapitels – zurück.

Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht ist viele Dinge auf einmal – eine Sammlung teils historischen Kartenmaterials, eine geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit Inseln und autobiografischer Text und erscheint an einigen Stellen entsprechend sprunghaft. Francis bereiste Inseln, von denen man vorher wahrscheinlich noch nie gehört hat. Da er aber nie länger als zwei, drei Seiten am Stück auf einer verweilt, verpasst er die Gelegenheit, diese Orte für den Leser etwas lebendiger zu machen. Ihm geht es aber auch mehr um die Reflexionen, zu denen ihn seine Inselreisen und die Lektüre von Texten über Inseln geführt haben.

Inseln können Befreiung, aber auch Kerker sein (53).

Von der Schatz- zur Gefängnisinsel, von der Klosterinsel zur Verkehrsinsel. Die Einsamkeit der Insel macht sie zum Ort der Selbstfindung und zur Abgrenzung. Oft gilt: je kleiner, desto einsamer. Das Abgeschnittensein von anderen Menschen, das Rauschen der See und Kreischen der Seevögel treten an die Stelle von Verkehrslärm und sozialer Interaktion. Eine Insel ist immer auch eine Verknappung – nicht alles ist immer verfügbar. Macht genau dies die Inselsehnsucht aus? Francis bemerkt, dass die über-Verbundenheit durch digitale Vernetzung zu einer Zunahme pathologischer Angstzustände führt. Sind wir alle reif für die Insel?

Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht alterniert fast assoziativ zwischen diesen Beobachtungen aus Francis Erleben und den Schriften großer Denker, Schriftsteller und Reisender wie Charles Darwin, Herman Melville, D.H. Lawrence oder Henry David Thoreau, der den Menschen selbst als Inselwelt aus Individuen begriff. Es ist ein luftiges, anekdotisches Buch, dessen Text sich wunderbar in seiner tollen Gestaltung spiegelt – reich mit Karten illustriert und mit angenehm viel weißem Wasser um seine schwarzen Landmassen.

Es muss nicht immer die weite Reise sein: Wie Francis an einer Stelle bemerkt, kann in seiner Abgeschiedenheit, die es bietet, auch ein Buch eine Insel sein.

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Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht ist bei Dumont erschienen.

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