Allgemein,  Kritik,  Literatur

“Einen Kern, den hast du nicht?”: Kurzes Buch über Tobias von Jakob Nolte

Kurzes Buch über TobiasKurzes Buch über Tobias von Jakob Nolte ist ein Roman, über den man viele Worte verlieren könnte. Es ist die fiktive Biografie eines ganzen Lebens, erzählt auf 231 Seiten in achtundvierzig Kapiteln, fragmentarisch und detailversessen zugleich. Es ist ein wundersames wie wunderbares Buch, in Inhalt und Form so unberechenbar rätselhaft, so witzig und traurig wie das Leben selbst.

Kurzes Buch über Tobias bricht mit jeder Vorstellung, die man von biographischem Erzählen haben könnte, auch wenn es sich um die Lebensgeschichte einer fiktionalen Figur handelt. Ohnehin: Es ist schwer, diesen Roman zu klassifizieren. Man liegt aber sicher nicht weit daneben, wenn man ihn als postmodernen Bildungsroman bezeichnet. Nur sprengt Jakob Nolte in seinem Text inhaltliche wie formale Erwartungen, mit denen man sich Texten dieser Art gewöhnlich nähert. Denn er spielt mit einer Sache, die essentiell für Lebensgeschichte ist – das chronologische Verstreichen der Zeit. So wie hier an manchen Stellen die Zeit ineinadergefaltet wird, wähnt man sich beinah an einen Christopher Nolan Film erinnert. Nolte spart auch nicht an Wendungen und Special Effects – in Tobias’ Leben stehen Ennui und Dramatik nebeneinander, dicht bedrängt von der Frage nach Sinn in einer Welt, die so bruchstückhaft erscheint, wie der Text strukturiert ist. So ungewöhnlich Inhalt und Form sind, so stimmig sind sie auch.

Versucht man die Dinge etwas zu entzerren, kann man – soweit man ein Leben als Handlung zu bezeichnen bereit ist – von dieser sprechen: Tobias wächst in Niedersachsen auf, nach dem Abitur verschlägt es ihn nach Berlin, bevor es ihn nach Hildesheim zum Stadiums des kreativen Schreibens führt. Irgendwann begegnet er Tobias, der sein Partner wird und findet den Glauben. Dadurch wird er Pfarrer und später Televangelist. Zwischenzeitlich erlebt er einen Flugzeugabsturz und verwandelt seine Ex-Freundin, mit der er gern Tischtennis spielt, in einen Hasen. Das alles ist nicht linear erzählt, wird durchkreuzt von Gedichten, die Tobias über sich selbst schreibt, E-Mail-Korrespondenzen, Traumaufzeichnungen und Dopplungseffekten. Die Zusammenhänge ergeben sich erst nach und nach und so ganz – wenn überhaupt – wahrscheinlich erst nach mehrmaligem Lesen.

Die ungewöhnliche Struktur macht den Einstieg in Kurzes Buch über Tobias nicht einfach, wenngleich der etwas an Leif Randt erinnernde Erzählstil den Leser trägt. Vor allem im ersten Drittel, wo die Chronologie und Zusammenhänge dieses Lebens kaum zu überblicken sind, scheint der Roman auf unterhaltsam wilde Weise redundant, sprunghaft und ausschweifend zugleich. Die Erzählhaltung, in ihrer Distanz zum Protagonisten ironisierend und detailversessen, beinah katalogisierend, lässt zuweilen selbst die Minutiae alltäglicher Dinge auf unterhaltsame weise absurd wirken. Beschreibungen davon, wie Tobias beinah unvermittelt in die Liebe und den Glauben stolpert oder einen Flugzeugabsturz überlebt haben hier genauso viel Platz wie Beobachtungen dazu, wie Tobias auf das Laden eines PS 4 Updates wartet und er dabei “auf einem harten, sauren Weingummi herum[kaute] und sich im Ohr [kratzte]” (113).

Es ist gerade dieses ungewichtete Nebeneinander der Banalitäten des modernen Lebens und einschneidenden Erlebnissen, die dem Text seine Tiefenwirkung geben. Kurzes Buch über Tobias erzählt von vielen Dingen, allem voran der absurden Suche nach Sinn in einer Welt voller Beliebigkeit. Tobias greift nach digitalen Kulturphänomenen wie 4chan, YouTube und Spielekonsole genauso wie zu aus der Zeit fallenden Trägern der Sinnhaftigkeit wie Literatur und Religion (besonders Tobias’ Erlebnisse als erfolgreicher Jungautor lesen sich als herrlich irrwitzige Persiflage auf “den Betrieb”). Verloren zwischen den Zeiten, gibt ihm nichts so richtig Halt, schon gar nicht, wenn da dieses innere Zerren zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Selbstverwirklichung herrscht.

Kurzes Buch über Tobias ist ein aufregender, komplexer und unterhaltsamer Text, der lang wirkt. Vielleicht das Highlight des Bücherfrühjahrs 2021.

*

Kurzes Buch über Tobias ist bei Suhrkamp erschienen.

Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.