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Neun Lebewohl: Abschiedsfarben von Bernhard Schlink

Abschiedsfarben Bernhard Schlink RezensionNach vielen Jahren ein Wiedersehen mit Bernhard Schlink: Obwohl mir Der Vorleser als Schüler vor inzwischen schrecklich langer Zeit unheimlich gefiel, verlor ich ihn aus den Augen. Jetzt ein neuer Erzählband, Abschiedsfarben, der die Frage aufkommen lässt: Warum eigentlich? Routiniert erzählt, fasziniert der Band mit dem nuancierten Facettenreichtum, dem er sich dem Abschiednehmen nähert.

Die neun Texte in Abschiedsfarben nehmen sich mit jeweils mehr als zwanzig Seiten Zeit für ihre Figuren. Die schnörkellose Eleganz, mit der Schlink erzählt, verleiht den nachdenklichen Texten die Würde und Ruhe, die sich brauchen. Schnörkellos elegant – das klingt erst einmal nicht aufregend und vielleicht könnte man fragen, für wen diese Texte eigentlich sind, wo doch fast alle Protagonisten Männer im Rentenalter sind – und dann auch noch weiße Männer! Das hat schon etwas Altmeisterliches in Stil und Inhalt – sicher nicht die hippe Wahl im Bücherregal – dennoch ist Abschiedsfarben ein stimulierendes Leseerlebnis. Denn die Fragen, die Schlink hier dem Leser stellt, sind universell – wo wir wieder bei dem wären, was gute Literatur ausmacht: Über Raum und Zeit hinweg zu kommunizieren und Verbindungen zu schaffen, wo man vielleicht keine vermutet.

Die Konsistenz, mit der diese Texte erzählt sind, macht es schwer, ein paar exemplarische Beispiele herauszugreifen. Beginnen wir also mit der ersten Erzählung, “Künstliche Intelligenz”, die, philosophisch betrachtet, durchaus an Der Vorleser anknüpft, weil sie das Abschiednehmen auch an Fragen nach Schuld und Moral knüpft. “Künstliche Intelligenz” wird von einem Mann in hohem Alter erzählt. Gleich im ersten Absatz steht, was für den gesamten Band gelten könnte – “meine Generation stirbt” (7). Beerdigungen werden irgendwann etwas Alltägliches – welch erschreckender, gern verdrängter Gedanke. In diesem Fall starb nun der beste Freund des Erzählers – beide forschten in der DDR – noch so ein Abschied! – an künstlicher Intelligenz. Die Tochter des Verstorbenen nutzt die Gelegenheit, so muss man es sagen, um ihre Dissertation zur Forschung in der DDR zu schreiben und zu diesem Zwecke die Stasiakten des Vaters anzufordern. Ein unbehaglicher Gedanke, denn der Verstorbene wollte damals fliehen, die Flucht scheiterte am geheim gebliebenen Verrat des Erzählers. Der Text ist ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Erzähler und Tochter, fragt, ob es in einer Freundschaft Täter und Opfer geben kann, nach Egoismus und Freundschaft.

Je länger man lebt, desto mehr Gepäck schleppt man auf der Seele. In vielen der neun Erzählungen blicken Menschen auf Beziehungen in ihrem Leben zurück, Beziehungen, die sich ver- und entwunden haben und, beispielsweise in “Geschwistermusik”, neu verstricken zu drohen. Hier erzählt ein älterer Mann von seiner ersten Liebe. Das Mädchen, Susanne, kam aus gutem Hause, der Erzähler aus normalen Verhältnissen. Die Verbindung brach abrupt ab, heute läuft man sich zufällig in der Berliner Oper über den Weg. Es ist eine tragische Geschichte, die durch verpasste Gelegenheiten und eine ungeheure Schuld durchpflügt wird. Denn eigentlich hatte Susanne den Erzähler für ihren durch einen Unfall an den Rollstuhl geketteten Bruder rekrutiert. Das Beziehungsgeflecht überforderte den damals Sechzehnjährigen, er floh im Rahmen eines Austauschjahres wortlos nach Amerika. Sie haben also einiges aufzuarbeiten – und einen Abschied nachzuholen.

In “Das Amulett” wird eine pensionierte Ärztin mit ihrem im Sterben begriffenen Ex-Mann konfrontiert. Man hatte sich ja eigentlich schon längst verabschiedet – im Bösen. Jetzt werden spärlich vernarbte Wunden neu aufgerissen. Der Abschied von einem Menschen ist selten endgültig – zumindest nicht, bis dieser stirbt. Und der Abschied von einem Menschen schließt oft andere mit ein. Abschied nehmen, so zeigt “Das Amulett”, braucht auch Vergeben. “Der Sommer auf der Insel” ist hingegeben ein Abschied von der Unschuld, als ein Junge lernen muss, dass seine Eltern eben auch Menschen sind. In “Daniel, my Brother” ist Abschied gleichsam Neubewertung.

Jede dieser neun Erzählungen kann dem Abschiednehmen andere Facetten abgewinnen, obwohl sie allesamt einem einzigen Milieu verhaftet bleiben (Bildungsbürgertum). Bernhard Schlink erzählt tatsächlich von einer sterbenden Generation, die nachfolgenden können von der Lektüre nur gewinnen. Uneingeschränkte Empfehlung!

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Abschiedsfarben ist bei Diogenes erschienen. 

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