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Wildes Treiben in der Vor-Vorstadt: Morgengrauen von Philippe Djian

Morgengrauen von Philippe DjianJoan hat vor zwei Wochen ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Jetzt zieht sie aus der Stadt zurück in das Elternhaus, wo ihr autistischer Bruder Marlon noch wohnt. Dramatisch wird es, als ein ehemaliger Liebhaber ihrer Mutter, Howard, für Aufregung sorgt. Morgengrauen ist ein rasanter Roman für einen Nachmittag am Strand.

Schnörkellos in Haupt- und Halbsätzen und mit minimaler Verwendung von Satzzeichen ist Morgengrauen äußerst ökonomisch erzählt – ein großes Plus, das dem Roman dann auf der letzten Seite leider zum Verhängnis wird. Der knappe Stil passt zum atemlosen Leben der Protagonistin: Joan arbeitet in einer Boutique, die Second Hand Designerklamotten verkauft. Das tut sie zusammen mit ihrer guten Freundin Dora – die gleichzeitig einen Prostitutionsring orchestriert. Joan verdient sich auch hier was dazu. Zu dieser Doppelbelastung kommt nun die Pflege für Marlon, der – obwohl inzwischen erwachsen – nicht allein leben kann. Der Verlust der Eltern spielt überraschend eine untergeordnete Rolle. Fünfzehn Jahre hatten sie nur spärlichen Kontakt zueinander. Joan war früh ausgezogen, das Verhältnis war zerrüttet: “Erst musste die Welt gerettet werden. Ihre Tochter, die nahmen sie nicht einmal wahr […] ihre Eltern waren mit ihren Gedanken woanders, und wenn sie den Mund aufmachte, fielen sie aus allen Wolken” (15).

Die Abwesenheit der Eltern stellt für Joan also keine große Veränderung in ihrem Leben dar. Abgesehen davon, dass diese mehr damit beschäftigt waren, den Staat zu sabotieren, ging es auch sonst wild her: Die Mutter unterhielt eine leidenschaftliche Affäre zu Howard, der wie sie Teil des linksalternativen Milieus war. Nun, nachdem die Eltern tot sind, steht er wieder vor der Tür. Und auch in Joans Bett – als Freier. Eine skurrile Geschichte also, die alsbald gefährlich wird. Denn einerseits soll Marlon nichts von Joans Zweitjob mitbekommen, andererseits hasst er Howard, den sie nun ins Haus lassen muss, damit dieser die Hinterlassenschaften der Eltern durchsuchen kann – vordergründig, um eventuell belastendes Material aus der Vergangenheit aus dem Weg zu räumen. Tatsächlich geht es ihm aber um eine Menge Geld, das Joans Vater über die Jahre beiseite geschafft haben soll.

Es wird noch komplizierter: Weil ihre Arbeit in der Stadt (Boston) ist, schafft sie es oft nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück nach hause. Da Marlon aber Angst im Dunkeln hat, engagiert sie eine Freundin von Dora als Babysitterin, Ann-Margaret, die alsbald eine Affäre mit diesem eingeht. Die Frau – ebenfalls einst in Doras Geschäft involviert – ist sechzig Jahre alt und drängt sich zwischen Bruder und Schwester. Somit hat Joan plötzlich mit zwei unliebsamen Menschen in ihrem Leben zu kämpfen, die Ereignisse überschlagen sich.

Philippe Djian erzählt das alles kühl und mit allerlei Auslassungen. Die Beziehungen unter den Einzelpersonen wie auch deren Motivation werden nicht auserzählt und bleiben teils nebulös. Das verstärkt natürlich die Involvierung des Lesers, der in den knappen Sätzen schnell zum Suchenden nach Erklärungen wird. Die einzelnen Charaktere werden mit wenigen Strichen gezeichnet – dennoch kauft man sie dem französischen Schriftsteller ab. Der Text funktioniert trotz aller sprachlicher Reduktion bei maximalem Drama wunderbar – bis man zur letzten Seite kommt, wo er den Text dann mit einem äußerst abrupten und wenig schlüssigen Ende verstolpert. Dennoch – als Quickie für den Strand taugt Morgengrauen allemal.

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Morgengrauen ist bei Diogenes erschienen.