Dorfkinder, die sich selbst überlassen werden: Dieses Szenario wird von jungen, deutschsprachigen Schriftstellerinnen in letzter Zeit öfter entworfen. Auf Karoline Menges Warten auf Schnee und Verana Güntners viel beachteten Roman Power folgt nun Lucia Leidenfrost mit Wir verlassenen Kinder. Es ist nicht nur das Setting – ein unbestimmter Ort zu einer unbestimmten Zeit -, den die Texte gemein haben. Auch die soziale Kälte, die durch diese elternlosen Gemeinschaften weht, eint sie.
Wir verlassenen Kinder ist zwischen den Romanen von Menge und Güntner anzusiedeln: Wie in Warten auf Schnee verschwinden die Erwachsenen aus dem Dorf und lassen die Kinder zurück. Während in Warten auf Schnee nur zwei Schwestern übrig bleiben und sich der Roman wie ein düsteres Grimm-Märchen liest, bilden die Kinder in Power und Wir verlassenen Kinder Banden mit eigenen Regeln. Leidenfrost steigt ohne Umwege und mit erfrischend knapper Sprache in ihren Text ein. Ohne Sentimentalität steht auf der ersten Seite:
Jetzt steigen sie ins Auto, jetzt startet der Motor, jetzt fahren sie los. Der Schotter spritzt, weil es Vater immer so eilig hat (S. 5).
Nicht alle Erwachsenen verschwinden. Ein paar Großeltern sind noch da, auch der Bürgermeister des Dorfs, Vater von Mila und zwei weiteren Töchtern, ist geblieben. Mila ist in diesem vielstimmig erzählten Text die Protagonistin – sie ist weder erwachsen noch Teil der Kindergruppe, die immer faschistoidere Züge annimmt. Warum die Eltern verschwunden sind, bleibt ähnlich rätselhaft wie in Warten auf Schnee. Sie sind alle in die Stadt gegangen, um Geld zu verdienen, heißt es. Warum sie aber nie zu Besuch kommen oder die Kinder nicht mitnahmen, bleibt ohne Erklärung. Auch scheint es einen kriegerischen Konflikt im Land zu geben. Immer wieder schweben “blecherne Vögel” (Drohen?) über den Köpfen der Kinder hinweg. Das Nachbardorf ist eine verbotene Zone, es ist vermint.
Ähnlich wie in Güntners Power ziehen die Kinder als Rudel durch das Dorf. Sie haben ein fest etabliertes Set an Regeln. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft: Eine der aufwühlensten Szenen ist sicherlich jene, in der Mila, die allein durch die verlassenen Häuser zieht und dort Sachen entwendet, nackt ausgezogen wird und das Wort Diebin auf die Hand tätowiert bekommt. Mila allein ist das Licht der Hoffnung in dieser Dystopie, die weder zeitlich noch räumlich gut einzuordnen ist. Als Heranwachsende kümmert sie sich um die jüngeren Geschwister und kontaktiert den ehemaligen Dorflehrer, um selbst den Unterricht zu organisieren. Aus der Frage, ob sie den sich verfestigenden Strom aus Not und Gewalt brechen wird können, zieht Wir verlassenen Kinder letztlich auch seine Spannung.
Über all dem steht natürlich auch die Frage, was uns diese jungen Autorinnen mit ihren Texten über verödende Dörfer und allein gelassene Kinder erzählen wollen. Offenbar vermuten sie eine unüberwindbare Kluft zwischen den Generationen. Die Eltern scheint es nicht weiter zu interessieren, welche Welt sie ihren Nachkommen hinterlassen. In den Strukturen, die sie in diesen Eine-Generation-Gesellschaften schaffen, folgen sie dem Beispiel Goldings Herr der Fliegen. Ohne Bildungsangebote und auf das nackte Überleben zurückgeworfen, etablieren sich autoritäre Gemeinschaften, die Ausweichler nicht dulden und sich letztlich auch gegen jene wenden, die sie zurückgelassen haben. Man könnte Wir verlassenen Kinder also als Warnung lesen: Was passiert, wenn eine Gesellschaft fragmentiert und die Zukunft der Kinder an der Gegenwart der Eltern zerschellt?
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Wir verlassenen Kinder ist bei Kremayr & Scheriau erschienen.