Ottessa Moshfegh zählt ohne Frage zu den aufregendsten Stimmen amerikanischer Erzählliteratur. Ihre erste Veröffentlichung, McGlue, brachte ihr einige Preise ein – aber keinen kommerziellen Erfolg. Das änderte sich mit ihrem Debütroman Eileen, einer rabenschwarzen Noir-Erzählung, die für den renommierten The Man Booker Preis nominiert war und zum Bestseller avancierte. Ihre Short Stories sind mitunter das Beste, was in dieser Gattung in letzten Jahren zu lesen war. Die Erwartungen an den zweiten Roman My Year of Rest and Relaxation (deutsch: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung) sind entsprechend hoch.
Doch auch die Hürde des oftmals ernüchternden zweiten Romans nimmt Moshfegh scheinbar ohne Mühe. Ihr dunkler Humor, die originelle Figurenzeichnung, das Spiel mit Klischees und die Klarheit der Formulierungen sind auf jeder der 289 Seiten langen Erzählung um eine namenlose New Yorkerin in ihren Zwanzigern präsent. Es sind nicht nur ihre stilistischen Fähigkeiten, die in Besprechungen über Moshfeghs Kunst herausgestellt werden. Denn was bei männlichen Schriftstellern heute kaum ein Schulterzucken hervorruft, scheint, zumindest in der amerikanischen Presse, doch immer noch Aufsehen zu erregen: Die Schriftstellerin geht in der Beschreibung ihrer vor allem weiblichen Protagonisten wenig zimperlich vor. Ihre Eileen aus dem gleichnamigen Debüt war eine schwere Alkoholikerin, die nach einer durchzechten Nacht auch mal in ihrem Erbrochenen aufwachte und dem Leser ausführlich ihre Schwierigkeiten beim Stuhlgang darlegte. Auch sonst sind ihre Figuren – Männer eingeschlossen – selten das, was man als Sympathieträger beschreiben würde. Oftmals haben sie starke Alkohlprobleme – allen voran der Seefahrer McGlue aus der gleichnamigen Novelle. Der besoffene Mann, dem der Mord an seinem besten Freund (und vielleicht auch ein bisschen mehr) vorgeworfen wird, schildert seine lückenhaften Erinnerungen auf äußerst profane Weise.
Die namenlose Erzählerin in My Year of Rest and Relaxation ist auch alles andere als “bei klarem Verstand”: Den Tod der Eltern und das Zerbrechen einer ohnehin recht einseitig empfundenen Beziehung verdrängend, entschließt die junge Frau, ein Jahr lang Winterschlaf zu halten. Dieses Ziel – ihr Jahr der Ruhe und Entspannung – versucht sie mit Hilfe ihrer inkompetenten und absolut verantwortungslosen Psychotherapeutin Dr. Tuttle zu realisieren, bei der sie ohne große Mühe ein ganzes Sammelsurium an starken Medikamenten bekommt (“Use reason when you feel you can. There’s no way to know how these medications will affect you” [25]).
Nun klingt dieser “Plot” natürlich auf den ersten Blick unaufregend. Fast 300 Seiten über eine Frau, die ein ganzes Jahr verschlafen will? Wirklich? Ja, wirklich: Und daraus eine Erzählung zu erschaffen, die alles andere als schläfrig ist, zeigt die magischen Fähigkeiten, die hier am Werke sind. Tatsächlich ist Moshfegh mit diesem unterhaltsam zu lesenden Roman eine Art invertierter Entwicklungsroman gelungen. Die Transformation der Protagonistin findet nicht durch Erlebnisse in der Welt statt, sondern durch die totale Abwendung von dieser:
I would risk death if it meant I could sleep all day and become a whole new person (26).
Schlaf ist das scheinbar einzige Hobby dieser jungen Frau. Und Schlaf ist auch verbunden mit ihrer unterdrückten Trauer über den Verlust der Eltern, die ihr selbst zu Lebzeiten fremd waren. Der Vater war ein Professor, der die bildschöne, um einige Jahre jüngere Mutter an der Universität kennenlernte. Sie brach das Studium ab, die frühe Geburt der Tochter setzten ihren Ambitionen, ein aufregendes Leben als Schönheitskönigin zu führen, ein Ende. Auch sie verschlief letztlich ihr Leben, weil sie nicht wusste, was sie damit anfangen wollte, außer sich in ihr Zimmer einzuschließen und Chardonnay zu trinken. Die schönsten Kindheitserinnerungen der Erzählerin sind die Tage, als sie ganze Schultage zusammen mit der Mutter im großen Ehebett verschlief:
Oh, sleep, nothing else could ever bring me such pleasure, such freedom, the power to feel and move and think and imagine, safe from the miseries of my waking consciousness (46).
Dem Jahr des Schlafens wohnt jedoch anders als bei der Mutter ein Ziel inne. Es soll eine Zäsur mit ihrem alten Selbst sein, das dann wie ein Traum erscheinen soll, aus dem sie völlig erneuert aufwacht.
Damit hat My Year of Rest and Relaxation durchaus existentialistische Züge, ohne aber je schwerfällig oder verkopft zu wirken. So sprenkelt die Autorin bitter-böse, irrwitzige Bemerkungen und Dialoge in den Text. Die Termine bei Dr. Tuttle sind beispielsweise von Absurdität geprägte Szenen, die einen ungläubig, schockiert und belustigt zugleich zurücklassen. Die verantwortungslose Psychotherapeutin ist eher an den ausgedachten Traumerinnerungen ihrer Patientin interessiert als an ihren Problemen. Sie kann sich beispielsweise nicht einmal merken, dass die Erzählerin beide Eltern innerhalb eines Jahres verloren hat. Auch die Begegnungen mit Reva, einzige Freundin und ehemalige Mitbewohnerin, sind in ihrer Kuriosität auf textlicher Ebene unterhaltsam und bieten auf der Bedeutungsebene spannende Anknüpfungspunkte. Reva versucht die Erzählerin von ihren Winterschlafplänen abzuhalten. Interessanterweise verträumt aber auch sie ihr Leben:
I had chosen my solitude and purposelessness, and Reva has, despite her hard work, simply failed to get what she wanted (14).
Reva, immer neidisch auf ihre wohlhabendere und streichholz-schlanke Freundin, führt ein aktives Leben, das aus einer Reihe Illusionen besteht. Sie will glücklich sein, alles haben und ist doch nur unglücklich. Sie steht immer unter Diät – ist dazu auch bulimisch – treibt Sport und tut alles, um wie die Frauen auf Modemagazinen auszusehen, ohne jemals mit sich zufrieden zu sein. Auf dem Schwarzmarkt besorgt sie sich Fälschungen bekannter Modehersteller. Sie unterhält eine zum Scheitern verurteilte Affäre mit ihrem verheirateten Boss. Wie die Erzählerin will sie eigentlich eine andere sein. Doch ihr Wunsch nach Transformation beruht auf Vorstellungen von einem perfekten Leben, das sie aus Zeitschriften und Sex and the City übernimmt. Man könnte behaupten, dass die schlafende Erzählerin beinah das authentischere Leben lebt:
‘Let me be dumb,’ I said, glugging the NyQuil. ‘You go be smart and tell me how great it is. I’ll be here, hibernating’ (59).
Beim nächsten Treffen hat sie in der Regel nichts Großartiges zu erzählen: Sie beneidet die Erzählerin um ihre schlanke Figur, regt sich über ihren Vorgesetzten auf und erzählt von der krebskranken Mutter. Und selbst wenn sie mal Glück im Leben hat, sind die Vorzeichen alles andere als gut: Als sie eine Beförderung erhält, weil der Chef die Affäre beendet, landet sie im World Trade Center (der Roman spielt zur Jahrtausendwende).
My Year of Rest and Relaxation ist auch ein Roman über Kunst. Vor ihrem “Winterschlaf” arbeitete die Kunsthistorikerin bei der hippen Galerie Ducat. Doch die Künstler dort punkten eher mit auffallenden Provokationen und ihrer Selbstvermarktung. Es geht mehr um den Künstler als um dessen (ideologisch) (v)erklärte Kunst. Spielzeugaffen aus Schamhaaren werden ausgestellt ebenso wie ausgestopfte Hunde, in deren Augen Laser installiert sind. Die Erzählerin selbst hatte einst Ambitionen, es als Künstlerin zu schaffen. So erzählt sie Reva “‘I wanted to be an artist, but I had no talent’”, worauf diese entgegnet – laut Erzählerin das Klügste was sie je sagte: “Do you really need talent?”. Das ist glücklicherweise eine Frage, die sich Ottessa Moshfegh nicht stellen muss. My Year of Rest and Relaxation bestätigt nur, was man spätestens seit Homesick for Another World wusste. Grandios!
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My Year of Rest and Relaxation wird von Jonathan Cape/Penguin verlegt.
Die Übersetzung Mein Jahr der Ruhe und Entspannung ist bei Liebeskind erschienen.
Zur Rezension von Moshfeghs drittem Roman Death in Her Hands.