Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich My loose Threat von Dennis Cooper las: Eigentlich wollte ich zu jener Zeit in der Bibliothek an meiner Dissertation arbeiten und nur mal kurz in dem Roman blättern. Doch sein unheimlicher Zauber wirkt schon auf den ersten Seiten, an weglegen nicht zu denken. Der Wiener Luftschacht Verlag hat den ursprünglich 2002 erschienen Text nun erstmalig in deutscher Übersetzung unter dem Titel Mein loser Faden verlegt. Von seiner Sogwirkung hat er nichts verloren.
Als ich Mein loser Faden aus der Post kramte, war ich einerseits erfreut darüber, dass sich ein Verlag gefunden hat, der diesen Text endlich ins Deutsche übertragen hat. Wie schon God, Jr. ein Jahr zuvor ist das beim Luftschacht Verlag verlegte Buch (hier entlang zur Rezension) eine echte Schönheit, die jedes Bücherregal aufwertet. Andererseits: Hatte ich wirklich Lust, mich erneut in diese erschütternde Geschichte zu werfen, in der Cooper abermals die Achse von Gewalt und Sexualität, dieses Mal mit Bezug zu dem Amoklauf an der Columbine High School, unerschrocken auslotet? Erschienen im Spätherbst, verzierte das kupfern glänzende Schmuckstück einige Wochen meinen Couchtisch, bis es mich – ausgerechnet vor Weihnachten – dann doch noch bezirzte, es aufzuschlagen.
Es ist immer noch ein immens immersiver Text, den ich, einmal angelesen, nur wieder aus der Hand legen konnte, weil sich eine Verabredung dazwischen schlich. Mit einer Pause ist er auch besser zu verdauen. Trotz der nur 146 Seiten wiegt der Text schwer. Mein loser Faden schildert die bedrückenden Gedanken von Larry, einem in irgendeiner Vorstadt lebenden Jugendlichen, der sich für den Tod seines besten Freundes verantwortlich fühlt. Mit diesen Schuldgefühlen verwoben ist eine inzestuöse Beziehung zu seinem jüngeren Bruder Jim. Die Eltern befinden sich in einem permanenten Zustand der Überforderung:
Als mein Dad krank wurde, fielen wir einfach auseinander (28).
Der Vater stirbt an Krebs, die Mutter flieht vor alldem in die Alkoholabhängigkeit. Wie in Coopers Romanen häufig der Fall, sind die jugendlichen Protagonisten größtenteils sich selbst überlassen. Bei einem von seinen Gefühlen überwältigten, ja beinah sprachlosen Jungen wie Larry, ist das fatal. Verwirrt, wütend, heftig sind die Adjektive, auf die er immer wieder zurückfällt. Die vielen Dialoge, die den Roman durchziehen, sind ein Beispiel für scheiternde Kommunikation: “Ist schon okay”, “ich weiß nicht”, “wie auch immer” heißt es ein ums andere Mal.
Das macht es zuweilen schwer, trotz der einfachen Sprache dem elliptischen Roman zu folgen, der ohnehin mehr von Stimmung denn von Plot lebt. Trotzdem passiert viel: Larry versucht den Tod seines besten Freundes zu verstehen. Gleiches gilt für die Beziehung zu seinem Bruder, der in diesen Unglücksfall ebenfalls verwickelt scheint. Gleich zu Beginn der Erzählung ziehen weitere dunkle Wolken auf: Der die Columbine Attentäter verehrende Zwölftklässler Gilman hat einen Bekannten von Larry (Pete) damit beauftragt, Bill zu töten, der wiederum der beste Freund von Jim war. All diese Heranwachsenden geraten mehr und mehr in einen unheilvollen Strudel aus Gewalt und Sex – also nichtsprachliche Akte, die der großen Sprachlosigkeit dieser Teenager als Ersatzhandlungen gegenüberstehen. So bemerkt Larry Sachen wie “Ich wusste nicht, dass man Dinge mit Worten ändern konnte, daher war es heftig” (47). Wenig später heißt es:
Ich habe gerade Pete geschlagen, nicht fest. Ich musste ihn entweder schlagen oder schwul werden (49).
Was von den geschilderten Vorgängen “wahr” oder “fiktiv” ist, bleibt rätselhaft. Aussagen werden von Larry immer wieder mit “denke”, glaube”, “schätze” ins Ungefähre gezogen. Sein Therapeut bemerkt: “‘Du gibst dir für Dinge die Schuld, die du nicht getan hast, und leugnest die Verantwortung für die Dinge, die du getan hast’” (126). Das macht auch die Sogwirkung dieses Textes aus. Die Erzählung zaudert und zittert. Hier spricht ein Subjekt am Rande des totalen Kollaps. Cooper zeigt Jugendliche, die zu ihrer Wut und ihrer von der Norm abweichenden Sexualität keinen sprachlichen Zugang finden.
Dennis Cooper zu lesen, bedeutet immer irgendwie auch, entrückt zu werden. Man wird der radikalen Subjektivität seiner meist jungen, verwirrten Erzähler ausgeliefert. Er erklärt nicht, er zeigt. Als Lesender wird man dadurch zum Suchenden, der ohne Wegmarken in der subjektiven Gedankenwelt der Protagonisten mit ihnen allein ist. Ihre Manie überzieht auch den Rezipienten. Das ist ein Kunststück, das nicht vielen Autoren glückt. Es ist nicht nur Coopers Furchtlosigkeit, konsequent die äußersten Ränder menschlichen Verlangens zu untersuchen, sondern auch, dass er als Autor völlig hinter seinen Erzählern verschwindet. Spätestens seit Bret Easton Ellis versuchen sich viele Schriftsteller an der ersten Person Präsens. Doch meistens klingen diese Erzähler dann wie Germanisten, ohne es zu sein. Nach der Lektüre von Dennis Cooper wird mir wieder klar, dass ich anderen Schriftstellern zu viel durchgehen lasse. Aber andererseits ist es auch einfach so: Dennis Cooper spielt in seiner ganz eigenen Liga. Pflichtlektüre für mutige Leser.
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Mein loser Faden erschien im Herbst 2018 bei Luftschacht. Aus dem Englischen von Raimund Varga.