Ein dreizehnjähriges Mädchen hungert sich zum Herzstillstand und landet in der Klinik. Dort greift sie zu einem Schreibblock und beginnt, die Familiengeschichte aufzuschreiben, vom tschechischen Urgroßvater bis zu ihren inzwischen getrennt lebenden Eltern. Lea Draegers Wenn ich euch verraten könnte ist ein atmosphärisch dicht erzählter Roman, der leider an seiner Erzählsituation krankt.
Ohne Verdruss geht es nicht: Erschütterung von Percival Everett
Der Erzählband Damned If I Do war vor über einem Jahrzehnt meine erste Begegnung mit dem amerikanischen Schriftsteller Percival Everett, der seinem neuen Roman Erschütterung ein Zitat Kierkengaards als Motto voranstellt: “thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.” Also sinngemäß: Wie man’s macht, macht man’s falsch – eine Überlegung, die den äußerst produktiven Schriftsteller nun schon seit einiger Zeit zu beschäftigen scheint. Mit Erschütterung hat er zumindest alles richtig gemacht – es ist eine berührende Erzählung über einen Vater, der seine Tochter verliert und Courage findet.
Schöngeistigkeiten in der Normandie: Eine redliche Lüge von Husch Josten
Leben wie Gott in Frankreich: So liest sich das in Eine redliche Lüge der Autorin Husch Josten dargestellte Leben der Eheleute Leclerc, bei denen Elise, frisch vom Studium, einen Sommer lang als Hausmädchen anheuert. In einem traumhaften Strandhaus in der Normandie halten die Leclercs regelmäßige Dinnerparties, bei denen sich die feine Gesellschaft zu feinen Speisen und schöngeistigen Gesprächen trifft. Elise ist teilnehmende Beobachterin, fasziniert und von Neugier beseelt, rekapituliert sie nun, Jahre später, diesen schicksalhaften Sommer, der, metaphorisch gesprochen, in einem Gewitter endete.
Das grenzenlose Ich: Null von Gine Cornelia Pedersen
Gine Cornelia Pedersens Debütroman Null wird vom Luftschacht Verlag als “poetisch-explosive Tirade” vermarktet. Es ist eine treffende Beschreibung: Hier lässt ein zügelloses Ich seinen Gedanken und Emotionen freien Lauf. Es ist ein erfrischender Coming of Age Text aus Norwegen, der die Klasse seines offensichtlichen Vorbilds Noah Cicero (The Human War) allerdings nicht ganz erreicht.
Nach dem Ruin: Harrow von Joy Williams
Ein literarisches Großereignis: Mit Harrow veröffentlicht Joy Williams – mehrfach ausgezeichnete Königen der zeitgenössischen Kurzprosa – ihren ersten Roman seit zwei Jahrzehnten. Es ist ein nicht einfach zu durchdringender Text, der irgendwann in einer näheren Zukunft spielt, in der die Erde völlig ruiniert wurde.
Bücherjahr 2021: Meine drei Favoriten
Wieder ein Jahr rum, und wie das vorhergehende so ziemlich im Griff der Pandemie: Man lebt eigentlich nur noch in Frühling und Sommer. Weggesperrt in harten, soften oder halb-Lockdowns lässt es sich aber prächtig lesen. Und es war ein gutes Bücherjahr 2021. Es auf drei Titel herunterzubrechen ist ein schwieriges Unterfangen. Wie im letzten Jahr auch machten wieder drei Romane das Rennen.
Die Qualen des Menschen: Heaven von Mieko Kawakami
“Mein leben glich dem stillen Dasein eines Möbelstücks”: Der 14-jährige Ich-Erzähler aus Mieko Kawakamis Roman Heaven beschreibt so sein Leben zuhause (59). In der Schule ist er eher Boxsack, der von seinen Mitschülern gequält wird. Erst als er einen Brief in seinem Federmäppchen findet, schimmert etwas Licht in seinem tristen Alltag. Wird am Ende der Qualen etwas Himmlisches warten?
Blutige Fabel des Erwachsenwerdens: Wenn ich jetzt nicht weine von Oisin Curran
Erwachsenwerden ist nicht einfach, schon gar nicht, wenn man 1980 in einem buddhistischen Kult groß wird und die Mutter schwer erkrankt. Der elfjährige Erzähler in Oisin Currans Roman Wenn ich jetzt nicht weine wird darüber hinaus von Visionen eines vermeintlich früheren Lebens geplagt. Es ist eine Mischung aus Coming of Age und Jules Verne Roman, ein faszinierender, phantasievoller Text, der seine Geheimnisse nicht ohne Weiteres preisgibt.
Frei leben: Der perfekte Kreis von Benjamin Myers
“Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit”, so lautet das Motto von Redbone und seinem Kumpel Calvert, zwei Männer mittleren Alters, die die Wochenenden des englischen Sommers damit zubringen, riesige Kornkreise zu erschaffen. Benjamin Myers Roman Der perfekte Kreis ist ein Buch über Freundschaft, Schaffenslust, Natur und das freie Leben.
Pornografischer Schlachthof der Romantik: I Wished von Dennis Cooper
In Dennis Coopers Werk ist eine Sehnsucht nach dem Unergründlichen eingeschrieben, die teils drastische Ausdrucksformen findet. Berühmt-berüchtigt wurde der Kult-Autor mit seinem George Miles Zyklus, einer fünfteiligen Romanfolge, deren Muse sein Jugendfreund und große Liebe George Miles war. I Wished, Coopers zehnter Roman, kehrt zurück zu dieser tragischen Beziehung voll offener Fragen. Es ist sein offen persönlichstes Buch, in dem er nicht zum ersten Mal das ausdehnt, was wir unter “Roman” verstehen.