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Nicht nur für Fans: Gratis Umarmungen von Philipp Röding

Rezension zu Gratis Umarmungen von Philipp Röding„die ungeheure Gleichzeitigkeit von allem, das ist schon was“: Dieser letzte Halbsatz schließt Philipp Rödings Erzählband Gratis Umarmungen mit einem Gefühl von Wunder, von Möglichkeiten, mit einer staunenden Ambivalenz und damit auch weitaus versöhnlicher als das Gros der insgesamt elf Erzählungen, die er uns in seiner ersten Veröffentlichung seit 20XX vor fünf Jahren präsentiert. Denn in den vorangehenden zehn Erzählungen werden die gratis Umarmungen, symbolisch gesprochen, von seinen Figuren – alle ungefähr zwischen 30 und 40 Jahren – nicht angenommen.

Filmisch gesprochen, bietet Gratis Umarmungen einige gelungene set pieces, zwischen die sich ein paar Miniaturen eher fragmentarischen Charakters mischen. Der Band öffnet mit so einer Miniatur: „Edward Norton“ beschreibt eine urbane Joggingroutine. Sie hat kaum literarisch-narrative Marker, aber ihre Positionierung in diesem Band vor der titelgebenden Erzählung macht sie interessanter, als sie für sich genommen ist. Das Joggen im urbanen Raum wird so zu einer Art Allegorie auf das Leben, das Singuläre, das Einzelkämpferische, das Ausdauer, Überwindung braucht, das gesund sein, das Optimum aus sich oder dem Leben herausholen will.

Mit „Gratis Umarmung“ folgt dann die erste längere Erzählung, die sich um eine Filmemacherin dreht, die nach einem längeren Aufenthalt in den USA auf einer Insel im Indischen Ozean gelandet ist. Hier verfällt sie in Routinen – sie hält sich – allein – mit Sportübungen fit und filmt jeden Abend aus der Distanz ein Resort, das man nicht betreten darf, immer wieder mit der gleichen Einstellung. Das Ergebnis, die Erzählung, der Sinn werden sich, so hofft sie, dann irgendwann im Schnitt zeigen. In der nahen Ortschaft gibt es übrigens die dargebotenen kostenfreien Umarmungen, aber weder die Protagonistin noch sonst wer scheint sie anzunehmen. Eine unbestimmte Sehnsucht, eine forcierte Distanz stehen hier in einem Spannungsverhältnis, ebenso wie die Bewegung vom Westen auf eine Insel signifikant scheint – nur bleibt der Rückzug aus der Leere westlicher Lebensweisen unproduktiv.

Absurde bis eklige Situationen werden in Gratis Umarmungen nicht gescheut. Sie sind Reibungspunkte, Möglichkeiten zur Nähe oder Distanz. In „Nur für Fans“ gesteht die Frau des Erzählers, dass es sie anmacht, „Männern beim Scheißen“ zuzuhören. Frappierend, dass ein solches Detail unerwähnt bleibt in einer Ehe, die viele Jahre Bestand hat und in der nun eine Distanz sichtbar wird.

Röding ist ein cleverer, ambitionierter Autor und auch ein bisschen ein Schelm. Seine Erzählungen atmen eine gewisse Malaise am Zustand unserer Gesellschaft. In einer Erzählung wird wortwörtlich Scheiße gefressen. Aber er präsentiert uns dies variationsreich. Die kleinen Fragmente sind ein bisschen wie die Kaffeebohnen in der Parfümerie – sie resetten Lesende zwischen den längeren, ambitionierten Stücken, die tonal von lakonisch bis süffisant, von kühler Verdichtung zur Plauderei verschiedene Register bedienen.

Es gibt viel zu wenig ernstzunehmende Kurzprosa in Deutschland. Sie fristet ein Schattendasein in kleinen Literaturzeitschriften, die kaum jemand liest und für die nie jemand bezahlt wird. Nur ab und zu begegnen sie uns in Programmen größerer Verlage – wenn, dann oft auch aus Ländern, vornehmlich den USA, wo man sie als ernstzunehmende, auch preiswürdige literarische Kunstform begreift und ein Niveau erreicht (Joy Williams, Adam Johnson etc.), von dem man aus Deutschland nur sehnsüchtig nach drüben schauen kann. Aber: Philipp Röding traut sich was, er liefert einen ambitionierten, klugen Band ab, der an der Stellung der Form im deutschsprachigen Bereich wohl nichts ändern wird und auch nicht ohne Makel ist, aber immerhin angenehm erfrischt. Bitte mehr.

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Gratis Umarmungen ist bei Luftschacht erschienen.

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