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Was verloren ging: Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck

Die Geschichte des Klangs von Ben ShattuckDie Geschichte des Klangs von Ben Shattuck ist ein schmales Buch von gerade einmal 100 Seiten, das ohne Paratext versehen ist. Ist es eine Novelle oder sind es zwei miteinander verwobene Erzählungen, die eine das Echo der anderen? Im Zentrum steht eine kurze Romanze zwischen Lionel und David, die sich im Nordosten der USA des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte und verlor.

Die Geschichte des Klangs öffnet in den 1980er Jahren, als Lionel von Annie ein Paket alter Tonaufnahmen erhält, die er einst mit David in den Wäldern Nordenglands aufgenommen hatte. Sie galten bis dahin als verschollen und sind einerseits das haptische Überbleibsel eines magischen Sommers der beiden (bisexuellen?) Männer sowie Zeugnisse folkloristischer Tradition. Jedes Berg, jedes Tal hat seine Lieder. Die beiden Musikstudenten Lionel und David nahmen sie auf.

Kennengelernt hatten sich beide zuvor in einer Studentenkneipe. David ein begnadeter Komponist, Lionel ein Sänger mit absolutem Gehör – geschehen ist es um die beiden in einer durchzechten Nacht. Dann kam der Erste Weltkrieg dazwischen: Was feurig begann, war schnell wieder kühl. Nach dem Krieg dann die Reise durch Neuenglands Wälder einen Sommer lang …

Der erste Teil von Die Geschichte des Klangs erzählt diese Geschichte behutsam melancholisch, feinfühlig, aber nicht rührselig und frei von jedem Kitsch. Der zweite Teil des schmalen Buchs widmet sich Annies Perspektive, deren Liebe zu Henry ähnlich schicksalshaft erschien wie jene zwischen Lionel und David, dafür aber hielt. Nun sitzt sie in einem großen Haus in einer Universitätsstadt, in der es ihr nicht wirklich gefällt. Das Haus war ein Schnäppchen mit Bedingung: Sie mussten es selbst entrümpeln. Da Annie ihr Studium aufgrund der Ehe zu Henry nie beendete, verbringt sie ihre Tage mit Ausräumen und Fernsehen – eines Tages sieht sie Lionel, der ein Buch zur folkloristischen Musiktradition geschrieben hat, in einem Interview und ist fasziniert: Dass Menschen damals Lieder sangen, dass Lionel, inzwischen jenseits der 80 Jahre, in Rom lebte und im Kolosseum gepicknickt hat, lässt sie ob ihrer eigenen, eher trostlos festgefahrenen Situation an ihren Entscheidungen zweifeln.

Beide Teile dieser Novelle oder dieses Mini-Erzählbandes kommen ohne einander aus, sind aber miteinander verflochten auf eine Weise, dass sie ihre Themen expandieren. Die Echos der Vergangenheit, die Frage nach Schicksal und einem gelebten Leben, die Bedeutung der ersten Liebe, der Verlust einer aktiven, kommunalen Lebensgestaltung hin zu einer, die an Bildschirmen klebt – in diesen wenigen Seiten steckt mehr als in manchem Roman. Gelungen!

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Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck ist bei Hanser erschienen.

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