Sennentuntschi von Hansjörg Schneider ist ein Theaterstück, das 1976 erstmals aufgeführt wurde und einen kleinen Skandal in der Schweiz auslöste. Diogenes druckt den Text nun erneut ab, sowohl in Hochdeutsch als auch im Dialekt, angereichert um zwei frühe Erzählungen des Autors sowie zwei Nachworte. Das Stück greift eine Sage der Alpenregion auf und balanciert zwischen zotigem Bauernschwank und modernem Theater. Ein großer Spaß, begleitet von berauschender Prosa.
Benedikt (der Senn), Fridolin (der Zusenn) sowie Mani (der Bub) haben noch gut zwei Wochen auf der Alb, bis sie zurück in die Gemeinde können. Die Stimmung ist etwas angespannt, vor allem Fridolin lüstet es nach Tanz. Er macht anzügliche Bemerkungen gegenüber dem Bub und dem Senn, die beide Partnerinnen unten in der Gemeinde haben. Wenn man nicht arbeitet, isst und trinkt man oder spielt Karten. Es eskaliert: Fridolin beginnt mit einer Weinflasche, Mistgabeln, Stroh und Käse das „Sennentuntschi“ zu basteln. Man tauft die Figur auf den Namen Maria, sie erwacht zum Leben – eine lebendige Puppe mit Durst auf Wein und Sex.
Die restlichen Tage auf der Alb verstreichen dann ganz schnell: Als lebendig gewordene Sexpuppe vergnügen sich die drei Männer mit dem Sennentuntschi. Nur: Irgendwann müssen sie zurück in die Gemeinschaft. Was passiert dann mit „Maria“?
Sennentuntschi ist ein höchst sexualisiertes Schauspiel, das lüstern und vulgär das Primitive der abgeschiedenen Männergesellschaft zum Vorschein bringt. Das Stück bietet sich geradezu an für freudsche Lesarten – Stichworte: Verquickung von Sexual- und Todestrieb, die Überlegung, ob das Begehren am Anderen immer das Begehren an der eigenen Projektion ist.
„Ich könnte mit meinen Sätzen die Sterne vom Himmel herunterholen, den Orion pflücke ich in jeder Winternacht, wenn die Eulen starr durch seine Figur kreisen, aber du, meine frühe Zeit, bist mir verloren.“
Begleitet wird Sennentuntschi von den Erzählungen „Leköb – Eine Lebensgeschichte“ sowie „Distra – Eine Liebesgeschichte“. Beide Texte stehen sprachlich im Kontrast zum umgangssprachlichen Theaterstück. Geradezu rauschhaft-fiebrig erzählt Hansjörg Schneider, wohl nah an der eigenen Biografie, von Heimat, dem distanzierten Verhältnis zum Vater, dem kühlen Verhältnis zur früh verstorbenen Mutter („Ich war ihr ein Stein, den sie mühsam herumtrug“) und der Begegnung mit der späteren Frau Astrid. Nicht linear und doch kohärent, verdichtet und uferlos entfaltet sich ein bildreiches Jugendpanorama.
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Sennentuntschi von Hansjörg Schneider ist bei Diogenes erschienen.
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