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Würde lassen – Würde leben: Museum der Einsamkeit von Ralf Rothmann

Rezension Museum der EinsamkeitZweifel und innerer Frieden, Demütigung und Würde – im Spannungsfeld dieser Gegensatzpaare entfalten sich die neun Erzählungen in Ralf Rothmanns neuem Erzählband Museum der Einsamkeit. „Sometimes I wonder what it’s gonna take to find dignity“, stellt er programmatisch ein Zitat Bob Dylans dem Band voran und zeigt diese Suche in äußerlich kontrolliert und ruhig erzählten, aber innerlich reißenden Geschichten.

Würdevoll sein bedeutet, anderen ihre Würde zu lassen. Diese Lehre können Lesende aus dem ersten und mitunter stärksten Texte in Museum der Einsamkeit ziehen: „Normschrift“. Ein Mann erzählt rückblickend aus seiner Zeit als Auszubildender in einem Ausbildungsinternat, das die Heranwachsenden für ein Leben auf dem Bau schulte. Ein grobschlächtiges, raues Umfeld, das im Kontrast zur Eloquenz des Erzählers steht, der sich durch seine saubere Handschrift an der Schule hervortut. Es ist eine Umgebung, in der auffälliges Verhalten in einer Tracht Prügel mündet. So gibt es hier einen Schläger und einen „Hundertfünfundsiebziger“ – in Anspielung auf den Paragrafen, der in der BRD Homosexualität unter Strafe stellte. In dem homosozialen Gefüge der Ausbildungsstätte gibt es aufgrund von Differenzen also reichlich Konfliktpotenzial – was den Verlust der Würde natürlich miteinschließt. Der Erzähler ist nicht nur Beobachter des eskalierenden Konflikts zwischen Schläger und Schwulem, sondern hat auch seine eigenen Sorgen als verliebter Jüngling, dessen schauspielende Flamme ihm zu erlöschen droht.

Der unheimlich vielschichtige, nuancierte Text gibt den Ton vor für die folgenden Erzählungen, die dieses hohe Niveau überwiegend halten, ohne je angestrengt zu wirken. Das war in Rothmanns vorherigem Band, Hotel der Schlaflosen, nicht so: Hier wirkte sein kontrollierter Stil teilweise zu kühl, die Erzählungen etwas unbehaust. Hier wünscht man sich oft, dass diese Texte nie enden mögen.

„Herr Dingens“, die zweite Erzählung in Museum der Einsamkeit, legt in emotionaler Wucht noch eine Schippe auf „Normschrift“ drauf: Wir begegnen einem Pfarrer, der seine Tochter – schwer erkrankt – im Krankenhaus besucht. Der Herr im Titel ist ihr liebstes Kuscheltier, eine emotionale Stütze in einem jungen Leben, das die zerbrochene Ehe der Eltern und nun dem Tod in die Augen schauen muss. „Budenzauber“ erzählt von einem älteren Bruder, der seinen jüngeren babysitten muss, während die Eltern ausgehen. Der Jüngere hat eine Behinderung, der Ältere betrachtet ihn mit Argwohn – als Komplikation in seinem Leben. Doch in dieser Nacht, die sich als anstrengend erweisen soll, findet er Fürsorge für den Bruder – gibt sich selbst Würde, indem er dem Bruder die seine belässt.

Die Erzählungen in Museum der Einsamkeit entfalten ein langes Echo. Sie sind keine klassischen Kurzgeschichten: Auch wenn es Momentaufnahmen sind, enthalten sie ganze Leben.

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Museum der Einsamkeit ist bei Suhrkamp erschienen.

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