Dass sich männliche Freunde auch Bruder oder, hust, Bro nennen, soll auf ein besonders enges aber natürlich nicht-schwules Verhältnis hinweisen. Während Freunde sich gern geschwisterlich betrachten, sind Geschwister nicht zwangsläufig Freunde. Alain Claude Sulzers neuer Roman Fast wie ein Bruder scheint dieses beinah unbehagliche Verhältnis männlicher Freundschaften zu thematisieren und ist gleichsam eine Erzählung über Homophobie und bildende Kunst.
Der Ich-Erzähler wird wie der Nachbarsjunge Frank 1961 geboren. Die Eltern sind befreundet, die Kinder auch. Beide teilen darüber hinaus das tragische Schicksal, jeweils in kurzem Abstand voneinander die Mütter an Krebs zu verlieren. Zwei Jungen, die gemeinsam zu Teenagern werden. Einzelkinder, ohne es zu sein, denn sie wachsen auf, als wären sie fast Brüder. Diese Freundschaft ist, wie Geschwister, situationsbedingt. Hätten sich der Ich-Erzähler und Frank erst als Teenager oder als Erwachsene kennengelernt, wären sie wohl nie Freunde geworden. Denn Frank provoziert ungewollt einen Skandal, als er – wir befinden uns hier in der BRD der 70er Jahre – mit einem Nachbarsjungen in flagranti erwischt wird. Frank ist schwul – und die Freundschaft zwischen beiden bröckelt auseinander, ohne sich völlig aufzulösen.
Sie bleiben über die Jahre in Kontakt, aber auf die oberflächliche Weise, wie es Geschwister tun, die eben nicht befreundet sind. Es gibt zu viel Geschichte zwischen Menschen, wenn sie sich ein Leben lang kennen, als dass man ihre Präsenz im eigenen Leben auslöschen könnte – da ist etwas, das verbindet. Aber wirklich nahe stehen sich die beiden nicht – man redet nicht über das Intimleben. Während Frank es als Maler in New York schaffen will und dort, inmitten der AIDS-Epidemie, sich mit Männern amüsiert, wird der Erzähler Kameramann und gründet eine Familie. Das Interesse am Leben des jeweils anderen fällt gering aus. Der Erzähler, dem nach dem Tod Franks dessen Gesamtwerk zufällt, interessiert sich nicht für die Kunst. Als Kameramann äußerst deutscher Prägung hat er keinen Sinn für die Innerlichkeit der Kunst. Wer also eine Erklärung dafür sucht, warum deutscher Film meist kunstlos oder gewollt und nicht gekonnt aussieht, findet in diesem Roman einen Erklärungsansatz für diesen Umstand.
Fast wie ein Bruder erzählt also von einer unbehaglichen Freundschaft, die sich trotz maximaler Distanz nicht auflöst. Alain Claude Sulzer erzählt das überwiegend mit großer Ruhe, beschleunigt die Erzählung im letzten Drittel aber maximal. Denn der Erzähler hat sich nie den Nachlass seines Freundes angesehen. Einigermaßen geschützt blieben Franks Bilder der Dunkelheit überlassen. Doch plötzlich tauchen sie in einer Berliner Galerie auf und der namenlose Künstler, der nie Erfolg hatte, wird gefeiert. Der Erzähler ist perplex: Wie gelangen die Bilder an die Öffentlichkeit? Wie konnte er die Bilder, die der Mann malte, den er fast wie Bruder betrachtete, nie anschauen? Und wie sollte er seine Eigentümerschaft nachweisen, wenn er die Werke nicht einmal beschreiben könnte?
Fast wie ein Bruder ist ein durchaus irritierender Text, was an dem Unverständnis liegt, das man dem Erzähler aufgrund dessen völligem Desinteresse an der Kunst Franks entgegenbringen könnte. Gleichwohl: Muss man die Kunst, die Freunde kreieren, mögen oder sich für sie interessieren? Man könnte sie sich zumindest einmal anschauen. Es ist also kein Wohlfühltext über Freundschaften, sondern ein eher unbequemer über das, was verbindet und am Ende vielleicht bleibt.
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Fast wie ein Bruder von Alain Claude Sulzer ist bei Galiani-Berlin erschienen.
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