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Zeichen des Verschwindens: Wendeschleife von Regula Portillo

Wendeschleife von Regula Portillo“Auch ich bin Schrift / und in eben diesem Augenblick / entziffert mich jemand.” Dieses Zitat Octavio Paz’ stellt Regula Portillo ihrem neuen Roman Wendeschleife voran. Es geht um das Verschwinden, ob durch Trennung oder Tod und die Schleifen, die die Gedanken der Zurückgebliebenen ziehen können. Das Gegenüber konstruiert sich in uns, ist immer unsere Interpretation. Was passiert, wenn wir das Gegenüber nicht mehr fragen können, ob sich unsere Interpretation von Ihnen einigermaßen mit deren Interpretation von sich selbst deckt?

“Ein Mensch ist, was er erinnert” (S. 93), doch auch diese Erinnerungen gehen verloren, spätestens mit dem Tod. Und eine Erinnerung ist immer auch nur die Erinnerung an eine Erinnerung, ein Vexierspiegel so wahr wie sich drehende Gedanken. Anna weiß das nur zu gut: Sie ist Altenpflegerin, der Tod ist ein steter Gast in ihrem Leben. In ihrem Kopf lebt auch ein Geist, Tom, ihr Exfreund, von dem sie seit einem Jahr getrennt ist. Und gleich zu Beginn des Romans empfängt sie einen Reisenden in ihrer Wohnung, Oliver. Der Amerikaner will für ein paar Tage auf ihrem Sofa unterkommen, um Bern zu erkunden. Anna ist in der Vergangenheit selbst gern gereist, jetzt nimmt sie die Reisenden gern für ein paar Nächte bei sich auf, weil die großen Reisen ob ihres Berufes nicht mehr möglich sind.

Sie freundet sich mit Oliver an: Sie zeigt ihm ihr Leben, stellt ihren Bruder, ihre Nichte und Freundinnen vor. Wenige Tage später will er nach Zermatt fahren, um sich das Matterhorn anzuschauen. Beide sind einen Tag später verabredet, doch er kehrt nicht zurück. Sie denkt sich erst nichts dabei – vielleicht ein Flirt mit einem Skihasen? Sie wartet einige Tage ab und schaltet dann eine Vermisstenanzeige – Oliver ist verschwunden, und niemand weiß wohin.

Annas Alltag bekommt einen Riss. Die Gedanken winden sich um Oliver und sein Verschwinden. Traurigkeit erfasst sie, obwohl sie diesen jungen Mann gar nicht so gut kannte. Hat sie ihn falsch interpretiert? Ist alles ein Missverständnis? Oder eine Tragödie?

Wendeschleife ist ein bestechend luzider geschriebener Text, der mehr noch als über die Verschwundenen über das Leben erzählt. Regula Portillo verankert Wendeschleife im Lebensalltag ihrer lebensecht gezeichneten Protagonistin und Ich-Erzählerin. Der Ausnahmezustand, den das Verschwinden Olivers für sie bedeutet (und in dem vielleicht die Trennung von Tom nachhallt), wird ein Teil ihres Lebensalltags. Die Gedanken hören schließlich nicht bei der Arbeit oder beim Familienfest auf. Das Leben, das macht der Roman deutlich, geht immer weiter – bis es endet. Bindungen werden gekappt, andere werden geknüpft. Manche Dinge kann man nicht überwinden, aber vielleicht verwinden.

Wendeschleife ist ein geradezu makelloser Text, der sein Thema auf mehreren im Alltag integrierten Ebenen erzählt und durch deren Überlagerung (Trennung, Tod, Verschwinden) wahrlich berührend, ja kathartisch ist.

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Wendeschleife von Regula Portillo ist bei Edition Bücherlese erschienen.

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