Der Titel dieses Storybands ist vielleicht etwas täuschend: Die Erzählungen in Scott Glodens The Great American Everything spielen vornehmlich in den Südstaaten und nehmen überwiegend zwischenmenschliche Beziehung, u.a. zwischen Geschwistern und Liebenden ins Visier – im Angesicht der eher unschönen Ausprägungen des modernen Lebens. Ausgezeichnet mit dem C. Michael Curtis Short Story Book Prize, ist The Great American Everything ein unheimlich konsistent und kontrolliert erzähltes Debüt voller Zärtlichkeit
Das Individuum und der Rest der Welt. Es sind zwischenmenschliche Beziehungen, die uns in ihr verankern. Geraten sie ins Wanken oder brechen ab, fühlen wir uns verloren. So oder so ähnlich könnte man die These von The Great American Everything zusammenfassen. Zehn Erzählungen loten diese Idee in unterschiedlichen Zweier-Konstellationen aus. “The Birds of Basra” öffnet den Band und ist wahrscheinlich die Erzählung mit dem größten sozialen Gewissen. Die Erzählerin lebt mit ihrer Partnerin Telly zusammen und arbeitet als eine Art Krankenpflegerin. Das Konzept ihres Arbeitgebers: Die Pflege wird nicht pauschal abgerechnet, sondern jede Tätigkeit einzeln – solange bis das Geld der Pflegebedürftigen versiegt. Ökonomische Zwänge, das eigene Gewissen, eine daran zerbröckelnde Partnerschaft und keine einfache Lösung – diese Erzählungen beginnen mittendrin und enden oft mit ungewissem Blick nach vorn.
In “Scenario” sind die Eltern einer Tochter damit beschäftigt, diese vermeintlich spielerisch auf den Ernstfall vorzubereiten, nachdem ein Mitschüler mit einer ungeladenen Waffe erwischt wurde. Die Angst vor Gewalt und Verlust wabert auch durch “What Is Louder”, einer Erzählung über zwei Brüder, von denen einer bei der Post und der andere im Nahen Osten beim Militär arbeitet. Verlust ist ein weiteres großes Thema dieses Bandes: In “Phosphorous” geht es um die Leere und den unglücklichen Versuch, sie zu füllen, nachdem eine Frau und ihr Kind bei der Geburt starben. “Tennessee” macht eine andere Art des Verlusts zum Gegenstand: Der Ich-Erzähler berichtet von seiner zusehends dementen Mutter.
The Great American Everything erzählt auf gefühlvolle Weise von den Schrecken des Lebens und der Orientierung, die wir in anderen suchen. Ein melancholisches, ein überzeugendes Debüt.
*
The Great American Everything von Scott Gloden ist bei Hub City Press erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor.
Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.