Kürzlich reiste ich nach Venedig. Bei der Suche nach einer passenden Reiselektüre musste ich nicht lange nachdenken. Nein, nichts von Donna Leon. Denn es ist wohl kein Buch so mit der Lagunenstadt verbunden wie Thomas Manns Der Tod in Venedig. Die Novelle hat nicht nur das Grand Hotel de Bains weltberühmt gemacht. Die Erzählung sorgte auch für einige Spekulationen über den Nobelpreisträger selbst.
Der Veröffentlichung von Der Tod in Venedig dürfte 1911 für einiges Stirnrunzeln gesorgt haben. In der schnell erzählten Handlung des kurzen Textes unternimmt der alternde, hoch angesehene Schriftsteller Gustav Aschenbach eine Reise nach Venedig. Dort steigt er auf der Insel Lido di Venezia im Grand Hotel de Bains ab, das majestätisch über der Adria thront. Unter den Gästen des Hotels befindet sich auch eine polnische Adelsfamilie mit dem Knaben Tadzio, in den sich der Schriftsteller verliebt – so sehr, dass er nicht mehr die Augen von ihm lassen kann und entgegen seiner Vernunft länger in Venedig verweilt, als er sollte. Mehr als Augenkontakt geschieht zwischen Aschenbach und dem Heranwachsenden jedoch nicht.
Da Thomas Mann wie sein Protagonist ebenfalls im Grand Hotel de Bains nächtigte und die Karriere der Kunstfigur jener ihres Erschaffers sehr ähnelt, bietet Der Tod in Venedig viel Raum für Spekulationen über die Sexualität des Nobelpreisträgers. Der Text sei eine „latente Offenbarung“, ist zum Beispiel im Spiegel zu lesen. Ein polnischer Baron will sich sogar in der Erzählung wiedergefunden haben. Über die Qualität des Textes sagt das freilich nichts aus.
Es vergeht ein Drittel der Novelle, bis Aschenbach den Jungen das erste Mal sieht. Er ist sofort gefangen:
Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz,- bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerad abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig-persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.
In Anbetracht des Alters und Geschlechts des Jungen sucht Anschenbach die problematische Anziehungskraft, die Tadzio auf ihn hat, über die Antike zu (v)erklären. So rekurriert er immer wieder auch auf den platonischen Dialog zwischen Sokrates und Phaidros. Tatsächlich ist er aber komplett von dem Antlitz des Jungen eingenommen, schaut ihn sich genau an. Wenn er dabei registriert, dass dessen Achseln noch so glatt wie bei einer Marmorstatue sind, ist das durchaus auch etwas unangenehm zu lesen. Der alternde Schriftsteller geht sogar soweit, dem Jungen und seiner Familie wie ein Stalker durch Venedig zu folgen.
Thomas Mann gibt sich mit seiner eleganten, in wurmartigen Sätzen arrangierten Sprache größte Mühe, das unsittliche Begehren aufzureiben und eventuell auch Distanz zwischen sich und seinem Protagonisten zu schaffen. So verwendet Mann die ersten beiden Kapitel (analog dem klassischen Drama ist die Novelle in fünf Kapitel gegliedert) darauf, den Hintergrund Aschenbachs zu beleuchten. Das erste Kapitel beschreibt einen Spaziergang durch München, aus dem sich durch eine Begegnung mit einem Fremden die Idee einer Reise ergibt. Im zweiten Kapitel beschreibt Mann die Herkunft seines Protagonisten: Er ist ein disziplinierter Künstler, der sich ganz seiner Arbeit verschrieben hat. Seine Disziplin und Strenge hat er vom preußischen Vater geerbt, das Musische ist mütterlicherseits.
Erst im dritten Kapitel geht Aschenbach auf Reisen. Während der Schifffahrt begegnet ihm ein älterer Herr, der sich mit einer Gruppe junger Männer umgibt und sie durch Kleidung und Gebaren in ihrer Jugendlichkeit zu übertreffen versucht. Aschenbach ist geradezu angewidert von diesem entwürdigenden Verhalten – unwissend, dass er dabei in seine nahe Zukunft schaut.
Denn auch Aschenbach ist ab seiner Begegnung mit dem schönen, eher androgyn beschriebenen Tadzio von dessen Jugend gefangen. Er verbringt folglich sehr viel Zeit beim Friseur, um die Spuren seines Alters, derer er sich immer bewusster wird, zu verwischen. So ist das Begehren für Tadzio in diesem strukturell der antiken Tragödie folgenden Text auch an die Diskrepanz zwischen intellektueller und emotionaler Selbstverwirklichung geknüpft. Der Schriftsteller hat den Großteil seines Lebens mit seiner künstlicheren Arbeit am Schreibtisch verbracht. Nach dem frühen Tod seiner Frau blieb er allein. Während der Reise vom Schreibtisch befreit, bricht ein unbekanntes Begehren in ihm auf, dem der sonst strenge Mann erliegt. Aschenbach, der aufgrund seiner eher gebrechlichen Konstitution die schwüle Lagunenluft nicht verträgt, ignoriert alle Warnzeichen, weil er sich nicht vom Bild des Knaben lösen kann. Selbst als die Cholera über Venedig herfällt, will er bleiben. Ohnmächtig stellt er fest: “Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel.“
Es ist seine Lebenszeit, die ihm entrinnt. Denn die Sehnsucht nach dem polnischen Jungen ist auch eine Sehnsucht nach dem, was nicht mehr sein wird: Der Text ist gespickt mit Andeutungen an den Tod. So liegt eine faulige Luft über Venedig, die Gondelfahrt wird zu einer Fahrt im Sarg und der Name des Protagonisten selbst verweist auf ein vergangenes Leben. Vielleicht erkennt Aschenbach auch seine selbst erloschene Jugend: Wie der Leser erfährt, sind die Mitglieder der Familie Aschenbach eher gebrechlicher Natur. Auch Tadzios Konstitution wird als kränklich beschrieben, seine Haut ist blass, die Zähne schlecht. Aschenbach vermutet, dass auch sein Leben eher kurz sein wird.
Der Tod in Venedig ist ein anspielungsreich und wortgewaltig erzählter Text. Es braucht schon einige Seiten, bis man sich in die Sprache des Textes eingefunden hat. Auch wenn auf Handlungsebene nicht viel passiert, haben diese Zeilen doch eine hypnotische Wirkung ähnlich der stetig sanft an Land rollenden Wellen der Adria. Ein sommerlich leichtes Lesevergnügen ist die Novelle dennoch nicht. Auf fruchtbare Einblicke in die Lagunenstadt selbst sollte der Leser nicht allzu sehr hoffen, außer vielleicht der Einsicht, dass Venedig damals wie heute wohl ein Touristenmagnet war („Venedig, die schmeichlerische und verdächtige Schöne, – diese Stadt, halb Märchen, halb Fremdenfalle“, schreibt Mann im fünften Kapitel treffend). Auch wenn Manns Protagonist auf der Hauptinsel Venedigs durch die engen Gassen irrt und Tadzio aus dem Blick verliert, fängt er die nicht immer einfach zu navigierende Stadt gut ein. Letztlich hat er aber in erster Linie Augen für den schönen Jungen.
Alles in allem ist Der Tod in Venedig aufgrund seiner ausufernden Satzkonstruktionen und der zahlreichen Anspielungen auf die Antike keine leichte Lektüre. So muss man als Leser seine Augen schon an einigen Stellen zwingen, nicht oberflächlich über die Zeilen zu huschen. Dennoch finden immer wieder schöne Beobachtungen Eingang in den Text, die einen innehalten lassen und auch über hundert Jahre später Gültigkeit haben:
Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, so lange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.
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