Es ist 1965 und der Erzähler von Helmut Kraussers neuem Roman Freundschaft und Vergeltung blickt fasziniert auf den neuen, einen Jahr älteren Mitschüler am Internat. Anthonys Perspektive auf den barschen, wortgewandten Chris Bradshaw erinnert etwas an Nicks auf Jay Gatsby – eine Figur “larger than life”, umhüllt in einer Aura des Geheimnisvollen. Der junge Mann bringt die Dinge am altehrwürdigen, aber finanziell auch ziemlich knappen Internat Raven Hall gehörig durcheinander – Ereignisse, die den blassen Erzähler ein Leben lang beschäftigen sollen.
Die 3 Platten des Jahres 2024
Bevor die letzten Tage des Jahres verstreichen, eine kleine Rückbesinnung auf das, was die meisten Runden auf meinem Plattenteller gedreht hat. Es gab vor allem im ersten Halbjahr viel aufregenden Musik, sodass die Auswahl auf drei Platten gar nicht so einfach war…
Die 3 Bücher des Jahres 2024
Blicke ich auf das Buchjahr 2024 zurück, um die drei überzeugendsten Veröffentlichungen herauszugreifen, kann ich das zweite Halbjahr direkt überspringen. Lediglich Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko ragte aus einem mittelmäßigen Herbst heraus. Die Highlights waren im Frühjahr zu finden. Da wäre James von Percival Everett, das auf vielen Bestenlisten zu finden sein wird; oder Weltalltage von Paula Fürstenberg, ein wunderbares Buch über eine bröckelnde Freundschaft. Elias Hirschl lieferte mit Content einen starken Roman ab, wenn er auch nicht ganz an Salonfähig anknüpfen konnte. Drei richtig gute Bücher. Aber drei weitere haben mir noch besser gefallen.
Trophäe von Gaea Schoeters
Gaea Schoeters Roman thront über jeder anderen Veröffentlichung in diesem Jahr. Ein wohlhabender Geschäftsmann begibt sich in Afrika auf Großwildjagd, um die großen 5 voll zu machen. Aber Wilderer kommen ihm in die Quere, schießen sein Nashorn. Nun, wo die begehrte Trophäe verloren ist, macht sein Jagdführer einen ungeheuerlichen Vorschlag: Wie wäre es mit einer Menschenjagd?
Trophäe führt uns, auf Basis eines aufmerksamen Hemingway-Studiums und mit einem Zitat von Joseph bewaffnet, “ins Herz der Dunkelheit”. Schoeters ist ein moralisch zutiefst ambivalenter Roman gelungen, der Schwarz-und-Weiß-Denken in erschreckende Grautöne überführt, über (Post-)kolonialismus, Rassismus, Kapitalismus sowie die Absurditäten heutigen Artenschutzes nachdenken lässt – all das verkleidet in einem beinharten Thriller, bei dem man den Schweiß des Jägers förmlich von der Seite riechen kann. Wahrhaftige Literatur!
The Bullet Swallower von Elisabeth Gonzales James
Ausgehend von ihrer eigenen Familiengeschichte ist Elisabeth Gonzales James ein folkloristischer, beinharter Western gelungen, der drei Generationen umspannt und den Leser über die großen Themen Schuld und Sühne nachdenken lässt.
El Tragabalas ist der Enkel eines einst mächtigen Minenbesitzers, der für die massenhafte Anhäufung von Gold eine ganze Gemeinde niedermetzeln ließ. Der Sündenfall der Familie schien auch ihr Untergang gewesen zu sein. Nun, Ende des 19. Jahrhunderts und somit auch am Ende des amerikanischen Frontiers ist El Tragabalas ein mittelloser Bandit, der einen wahnwitzigen Zugraub begehen will und dabei so grandios scheitert, dass es ihn seinen Bruder kostet und fast sein eigenes Leben. Fast hundert Jahre später stößt Jaime Sonoro auf die unheimliche Familiengeschichte und wähnt sich verflucht…
Poetisch, gewalttätig, spannend: Eine überaus originelle Neuerzählung des Westerns.
Wendeschleife von Regula Portillo
Regula Portillo praktisch fehlerloser Roman hat viel zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Vielleicht liegt es am etwas langweiligen Cover oder der Tatsache, dass der Plot auf dem ersten Blick nichts Ungewöhnliches verspricht. Und doch kann dieser komprimierte Text, an dem wahrlich kein Wort zu viel ist, nicht anders als Leser in den Bann ziehen. Er spricht schließlich universelle Themen an: Das Eigenleben, das Menschen in den Köpfen anderer annehmen. Anna hat noch den Geist ihres Exfreundes im Kopf, als plötzlich ein junger Amerikaner als Sofa Surfer vor ihrer Tür steht. Es entwickelt sich eine Art Freundschaft – Anna lässt den Mann an ihrem Leben teilhaben für die Dauer seines Aufenthalts. Als er einen Ausflug zum Matterhorn machen will, kehrt er nicht zurück – ein Ereignis, das Kaskaden in Annas Kopf lostritt.
Wendeschleife ist ein wunderbar eleganter, klarer Text über den Ausnahmezustand im Alltag, über Menschen und die Bedeutungen, die wir ihnen zuschreiben und über den Abschied von realen sowie imaginierten Geistern.
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Ein Buch wie ein Scherbenhaufen: Die Trauer der Tangente von Fabian Saul
In Die Trauer der Tangente von Fabian Saul kommt der Erzähler nach Berlin, um sich zu verabschieden. Er kommt zu spät: Der einstige Weggefährte stirbt ohne Gelegenheit eines Abschieds. Die Erzählung fragmentiert. Die Trauer der Tangente springt zwischen Orten, Zitaten, Zeiten, umkreist und vermeidet im Versuch, zu berühren. Es ist Herzensangelegenheit und Kopfgeburt zugleich.
Tierische Fiktion: Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret
Denkt man an Science-Fiction, denkt man oft an ferne Welten in weiter Zukunft. Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret, einer französischen Wissenschaftsphilosophin, ist jedoch wissenschaftliche Fiktion im wahrsten Sinne: Die mit Zukunftsgeschichten untertitelte Veröffentlichung gibt sich als eine Art Sammelband über Therolinguistik – ein Wissenschaftsfeld, das sich mit nicht-menschlichen Literaturen beschäftigt. Es ist ein faszinierendes, schwer zu kategorisierendes Werk, das Wissenschaft clever mit Philosophie und Literatur verwebt.
Sexueller Notstand auf der Alb: Sennentuntschi von Hansjörg Schneider
Sennentuntschi von Hansjörg Schneider ist ein Theaterstück, das 1976 erstmals aufgeführt wurde und einen kleinen Skandal in der Schweiz auslöste. Diogenes druckt den Text nun erneut ab, sowohl in Hochdeutsch als auch im Dialekt, angereichert um zwei frühe Erzählungen des Autors sowie zwei Nachworte. Das Stück greift eine Sage der Alpenregion auf und balanciert zwischen zotigem Bauernschwank und modernem Theater. Ein großer Spaß, begleitet von berauschender Prosa.
Luft: Eine für alle im DHMD
Nicht sichtbar, aber immer da: Die Luft, die uns umgibt. Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden eröffnete am 8. November feierlich die neue Sonderausstellung zu einem essentiellen aber unsichtbaren Thema. Luft erschließen wir uns über Gerüche und Geräusche. Entsprechend wurde die feierliche Eröffnung gestaltet: Eldar Blau unterhält die Gäste mit seinem “Saxo-Didge”, einem Didgeridoo, das wie ein Saxophon anmutet und großen Beifall erntet. Die Einführung der Kuratorinnen Neli Wagner und Nele-Hendrikje Lehmann wird begleitet von Frank Bloem, der Dufterinnerungen von Dresdnern durch den großen Saal wehen lässt. So kann man ein konkretes und ob seiner Unsichtbarkeit doch abstraktes Thema greifbar machen. In der Ausstellung selbst gelingt das nicht immer.
Kerker ohne Wände: Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko
Sasha Filipenko exerziert weiter das russische Gemüt. Nachdem der Belarusse mit Die Jagd einen satirischen Thriller veröffentlichte, ist Der Schatten einer offenen Tür eine neue Genreübung. Der Roman ist eine Kriminalgeschichte, zwar weniger temporeich erzählt als Die Jagd, aber nicht ungleich unterhaltsamer oder erschreckender. Die Erzählung haftet sich an den Moskauer Kommissar Koslow, der im tristen Provinznest Ostrog eine Reihe Selbstmorde von Heimkindern untersuchen soll. Das Elend, so suggeriert es der Text, lässt sich besser aushalten, wenn man das Schöne gar nicht erst kennt.
Das gespaltene Land: Im Land der Wölfe von Elsa Koester
Im Land der Wölfe von Elsa Koester nimmt den Leser mit ins ostsächsische Grenzlitz, ein fiktiver Ort, der möglicherweise für Görlitz steht, der schönen Filmkulisse, die durch die Neiße von Polen getrennt ist. Nana, Ich-Erzählerin des Romans, ist aus Berlin in die von den Nachwendejahren gezeichnete Stadt gekommen, um Katja von der Partei Zukunftsgrünen bei der Bürgermeisterwahl zu coachen und einen blauen Bürgermeister zu verhindern. Wie die Region, in die sie reist, wirkt auch sie gespalten. Ihre Reise nach Grenzlitz ist auch eine Flucht vor familiären Spannungen. Ihre Unterstützung für Katja könnte sie darüber hinaus gefährden, weil sie dem blauen Schergen Falk etwas zu nah kommt.
Caspar David Friedrich zum 250. im Albertinum und im Kupferstichkabinett
Caspar David Friedrich – wo alles begann, steht programmatisch auf dem Begleitflyer zu den beiden Geschwisterausstellungen im Kupferstichkabinett (“Caspar David Friedrich – der Zeichner”) und im Albertinum (Caspar David Friedrich – der Maler”). “Alles” begann für den bekanntesten Maler der Romantik freilich nicht in Dresden, sondern in der schönen Hansestadt Greifswald, wo man noch heute das Haus, in dem er aufwuchs, besichtigen kann. Viele Bilder bekommt man in der Geburtsstadt des Malers allerdings nicht zu sehen, einige wenige im Pommerschen Landesmuseum, aus dem in Dresden keine Leihgaben zu sehen sind. In Dresden, wo er 40 Jahre lebte und den Großteil seines Werkes schuf, sind neben dem Bestand der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Leihgaben aus u.a. Hamburg, Berlin, Wien und Schweinfurt zu sehen. Der Andrang ist groß, der Besuch der Ausstellungen gewissermaßen die Antithese zu den Stimmungen, die des Malers Bilder eigentlich evozieren.