Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger ist inspiriert von einer realen Begebenheit: Zwei Holländerinnen verschwinden spurlos im küstennahen Dschungel Panamas. Der bis heute nicht aufgeklärte Fall erfährt auch in Elmigers labyrinthinen Sätzen keine Klarheit: In ihrer Erzählung bekommt eine namenlose Autorin den Auftrag, das neue Projekt eines gefeierten Theatermachers zu begleiten und zu protokollieren. Zusammen mit anderen Kulturschaffenden wandelt man auf den Spuren der Vermissten und verliert sich in Geschichten und im Getöse von Flora und Fauna.
Jede Schattierung blau: The Body Farm von Abby Geni
Ein wahrhaft gelungener Erzählband kann der höchste literarische Genuss sein – Geschichten, die den Leser in fremde Leben werfen, ohne jedes Geheimnis preiszugeben. Abby Genis The Body Farm versammelt elf Stories mit einer durchschnittlichen Länge von zwanzig Seiten – kein Wort zu viel, keines zu wenig, beseelt von einer Magie, die keine doppelten Böden braucht. Selten hat man einen thematisch so variationsreichen und qualitativ konsistenten Erzählband gelesen – The Body Farm ist eine bemerkenswerte Sammlung, die Lesenden elf Fenster zu anderen Leben öffnet.
Was verloren ging: Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck
Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck ist ein schmales Buch von gerade einmal 100 Seiten, das ohne Paratext versehen ist. Ist es eine Novelle oder sind es zwei miteinander verwobene Erzählungen, die eine das Echo der anderen? Im Zentrum steht eine kurze Romanze zwischen Lionel und David, die sich im Nordosten der USA des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte und verlor.
Zweiter Frühling: Strandgut von Benjamin Myers
Buckys siebzigjährige Knochen schmerzen. So sehr, dass er von Opiaten abhängig ist. Die goldene Stunde, in der er genug Pillen intus hat, in der mal alles gut erscheint, ist scheinbar alles, was ihm im Leben noch bleibt. Vor einem Jahr hat er seine Frau an Krebs verloren. Doch solange man lebt, öffnet das Leben immer wieder neue Türen. Man muss nur hindurchgehen. Und genau das macht Bucky in Benjamin Myers’ neuem Roman Strandgut: Er wurde ins englische Scarborough eingeladen, um zu singen.
Ein Vogel möcht ich sein: Psychopompos von Amélie Nothomb
Auf Amélie Nothomb ist Verlass: Wie ein Uhrwerk veröffentlicht sie beinahe im Jahresrhythmus kurze Romane mit selten mehr als 200 Seiten. Mehr braucht sie nicht, destilliert ihre oft ganze Lebensgeschichten umfassenden Erzählungen auf ihre Essenz. Mit Psychopompos legt sie nun einen kurzen, autobiografischen Roman vor – ihr vielleicht persönlichstes Werk. Schließlich ist sie die Protagonistin. In Psychopompos geht es um ihr Aufwachsen als Diplomatentochter, die in Vögeln so etwas wie ihre Seelenverwandten findet und über sie zum Schreiben kommt.
Wenn Elefanten Politik machen: Das Geschenk von Gaea Schoeters
Das Geschenk von Gaea Schoeters löst das große Versprechen ein, das ihr viel besprochenes Debüt Trophäe machte. Das Geschenk nimmt die Themen des Vorgängers – Zivilisation und Naturschutz, Postkolonialismus, Maskulinität – auf und entwickelt sie weiter zu einer erschütternden Diagnose zur Demokratie in westlichen Gesellschaften. Der Roman ist eine hintersinnige Politiksatire, in der sich ein machtpolitisch taktierender deutscher Kanzler mit einem erstaunlichen Problem auseinandersetzen muss: 20.000 afrikanische Elefanten tauchen plötzlich in der Hauptstadt auf.
Überwuchert: Stammzellen von Alina Lindermuth
In Alina Lindermuths neuem Roman Stammzellen hat eine weltumspannende Gesundheitskrise alles im Griff: Die Dendrose genannte Erkrankung lässt die Betroffenen binnen Monaten zu Bäumen werden. In Stammzellen begleiten wir Ronja, Notfallärztin und ehrenamtliche Dendrose-Beraterin, über ein Jahr in ihrem Leben. Neben einem symptomatischen Kribbeln in den Zehen ist da eine sich entwickelnde Beziehung zu Elio: Welche Form der Verwurzelung begleiten wir hier?
Die Verzweiflung des Subjekts: Rejection von Tony Tulathimutte
Mit Rejection legt der Amerikaner Tony Tulathimutte einen hoch literarischen, rauschhaft lesbaren Text vor, der die Grenzen zwischen Erzählband und Roman verwischt. Rejection ist Fiktion nah am Zeitgeschehen aus längeren, miteinander verbundenen, aber autark funktionierenden Erzählungen. Die nach Anerkennung dürstenden und in ihrer eigenen Subjektivität gefangene Protagonisten werden in den brisanten Diskursen unserer digitalen Gesellschaft platziert – und zerbrechen daran. Zwischen Fremdscham, Unbehagen und absurdem Amusement zirkulieren diese Texte, um in einer Meditation über Fiktion zu kulminieren.
Die Welt entglitt ihm: Crazy Land von Timotheus Ueberall
Crazy Land von Timotheus Ueberall ist ein beinahe fiebriger Text, in dem Protagonist Aki und Setting Wien in einen psychotischen Zustand abgleiten. Ueberall lässt das Politische und Persönliche parallel laufen, sich überkreuzen, ohne es für den Leser zu ordnen, zu entwirren. Es ist ein Abstieg in den Wahnsinn einer haltlosen Gegenwart.
Würde lassen – Würde leben: Museum der Einsamkeit von Ralf Rothmann
Zweifel und innerer Frieden, Demütigung und Würde – im Spannungsfeld dieser Gegensatzpaare entfalten sich die neun Erzählungen in Ralf Rothmanns neuem Erzählband Museum der Einsamkeit. „Sometimes I wonder what it’s gonna take to find dignity“, stellt er programmatisch ein Zitat Bob Dylans dem Band voran und zeigt diese Suche in äußerlich kontrolliert und ruhig erzählten, aber innerlich reißenden Geschichten.