„die ungeheure Gleichzeitigkeit von allem, das ist schon was“: Dieser letzte Halbsatz schließt Philipp Rödings Erzählband Gratis Umarmungen mit einem Gefühl von Wunder, von Möglichkeiten, mit einer staunenden Ambivalenz und damit auch weitaus versöhnlicher als das Gros der insgesamt elf Erzählungen, die er uns in seiner ersten Veröffentlichung seit 20XX vor fünf Jahren präsentiert. Denn in den vorangehenden zehn Erzählungen werden die gratis Umarmungen, symbolisch gesprochen, von seinen Figuren – alle ungefähr zwischen 30 und 40 Jahren – nicht angenommen.
Mangel an Liebesfähigkeit: Medulla von Verena Günther
„Medulla“ bedeutet wörtlich Mark – zumindest im medizinischen Bereich. Symbolisch betrachtet referenziert es das Innerste oder das Wesentliche oder einfach das Selbst. Verena Günthers Roman Medulla schärft das Verständnis des Begriffs nicht zwingend. Man kann aber festhalten, dass die sechs Personen, die sie porträtiert, sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Ihre Innerlichkeit, ihr Kern, wird dennoch selten scharf – vielleicht liegt es am Umbruch, in dem sie sich befinden. Vielleicht liegt da aber auch der Kern der Krisen, denen Lesende hier beiwohnen.An Oral History of Atlantis von Ed Park
Der Amerikaner Ed Park präsentiert in An Oral History of Atlantis sechzehn Stories auf knapp zweihundert Seiten, besessen von schräger Originalität, Witz und kühnen Konzepten. Er zeigt sich als Autor mit eigener Stimme, der keine riskanten Ideen scheut. Das bedeutet auch, dass manche Texte flach fallen – während andere in kristallinen Höhen singen.Anamnese: Botanik des Wahnsinns von Leon Engler
Verrückt sein oder verrückt machen: Leon Engler erzählt in seinem autobiografischen Debütroman Botanik des Wahnsinns die Familiengeschichte anhand der psychischen Erkrankungen, die sich durch die Generationen ziehen. Das Werk beginnt mit dem Autor, der die Hinterlassenschaften der Mutter nach einer Zwangsräumung sortiert – alles Persönliche wurde fälschlicherweise zerstört, nur Rechnungen und Amtsschreiben sind erhalten geblieben. Dann springt der Text in die Vergangenheit – im Hintergrund stets die Frage nach der genetischen Disposition für psychische Erkrankungen: Könnte es auch ihn treffen?Notgemeinschaft: Dein Herz, ein wildes Tier von Jardine Libaire
Dein Herz, ein wildes Tier von Jardine Libaire ist eine amerikanische Erzählung über Aussteiger im sogenannten Flyover-Country – also fernab der Metropolregionen der Ost- und Westküste. Im Kern geht es um Staci, Ray, Ernie und Coral – eine zufällig zusammengewürfelte Truppe, die plötzlich ohne ihre Aussteiger-Community klarkommen muss und zu einer Art Familie zusammenwächst.Labyrinthiner Dschungel: Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger
Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger ist inspiriert von einer realen Begebenheit: Zwei Holländerinnen verschwinden spurlos im küstennahen Dschungel Panamas. Der bis heute nicht aufgeklärte Fall erfährt auch in Elmigers labyrinthinen Sätzen keine Klarheit: In ihrer Erzählung bekommt eine namenlose Autorin den Auftrag, das neue Projekt eines gefeierten Theatermachers zu begleiten und zu protokollieren. Zusammen mit anderen Kulturschaffenden wandelt man auf den Spuren der Vermissten und verliert sich in Geschichten und im Getöse von Flora und Fauna.Jede Schattierung blau: The Body Farm von Abby Geni
Ein wahrhaft gelungener Erzählband kann der höchste literarische Genuss sein – Geschichten, die den Leser in fremde Leben werfen, ohne jedes Geheimnis preiszugeben. Abby Genis The Body Farm versammelt elf Stories mit einer durchschnittlichen Länge von zwanzig Seiten – kein Wort zu viel, keines zu wenig, beseelt von einer Magie, die keine doppelten Böden braucht. Selten hat man einen thematisch so variationsreichen und qualitativ konsistenten Erzählband gelesen – The Body Farm ist eine bemerkenswerte Sammlung, die Lesenden elf Fenster zu anderen Leben öffnet.Was verloren ging: Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck
Die Geschichte des Klangs von Ben Shattuck ist ein schmales Buch von gerade einmal 100 Seiten, das ohne Paratext versehen ist. Ist es eine Novelle oder sind es zwei miteinander verwobene Erzählungen, die eine das Echo der anderen? Im Zentrum steht eine kurze Romanze zwischen Lionel und David, die sich im Nordosten der USA des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte und verlor.Zweiter Frühling: Strandgut von Benjamin Myers
Buckys siebzigjährige Knochen schmerzen. So sehr, dass er von Opiaten abhängig ist. Die goldene Stunde, in der er genug Pillen intus hat, in der mal alles gut erscheint, ist scheinbar alles, was ihm im Leben noch bleibt. Vor einem Jahr hat er seine Frau an Krebs verloren. Doch solange man lebt, öffnet das Leben immer wieder neue Türen. Man muss nur hindurchgehen. Und genau das macht Bucky in Benjamin Myers’ neuem Roman Strandgut: Er wurde ins englische Scarborough eingeladen, um zu singen.Ein Vogel möcht ich sein: Psychopompos von Amélie Nothomb
Auf Amélie Nothomb ist Verlass: Wie ein Uhrwerk veröffentlicht sie beinahe im Jahresrhythmus kurze Romane mit selten mehr als 200 Seiten. Mehr braucht sie nicht, destilliert ihre oft ganze Lebensgeschichten umfassenden Erzählungen auf ihre Essenz. Mit Psychopompos legt sie nun einen kurzen, autobiografischen Roman vor – ihr vielleicht persönlichstes Werk. Schließlich ist sie die Protagonistin. In Psychopompos geht es um ihr Aufwachsen als Diplomatentochter, die in Vögeln so etwas wie ihre Seelenverwandten findet und über sie zum Schreiben kommt.